Fleisch produzieren ohne den Umweg über das Tier, das ist die Idee der Unternehmen, die sogenanntes zellbasiertes Fleisch entwickeln. In-vitro-Fleisch, Laborfleisch, zellbasiertes Fleisch, «cellular agriculture» – für die Technologie existieren diverse Begriffe, die teils statt an kulinarische Freuden eher an Technologie, Forschung und Medizin denken lassen.

Zellen vermehren sich in Nährlösung
In der Tat stammt erstes Know-how zum Kultivieren von Fleisch aus tierischen Stammzellen unter anderem aus der regenerativen Medizin, wie Oliver Näf von Mirai Foods auf Anfrage erklärt. Das Start-up im zürcherischen Wädenswil gehört zu den weltweit rund 100 Firmen, die derzeit daran arbeiten, zellbasiertes Fleisch marktreif zu machen – oder dies bereits geschafft haben: In Singapur kommt kultiviertes Pouletfleisch in ersten Restaurants auf den Tisch. Mirai Foods hat bislang Hackfleisch nachgebildet. Das Start-up arbeitet mit Zellen, die lebenden Rindern als Gewebeprobe entnommen werden. In einer Nährlösung in einem Reaktor werden diese Zellen vermehrt. Damit das Produkt punkto Geschmack herkömmlichem Fleisch nahekommt, braucht es eine Mischung aus Fett- und Muskelzellen. Somit müssen die Stammzellen dazu angeregt werden, sich in Muskel- und Fettzellen zu differenzieren.

In einem weiteren Schritt werden die Muskelzellen dazu gebracht, sich zu verketten, um damit eine muskelartige Struktur zu erhalten. «Muskelzellen haben die Eigenschaft, dass sie fusionieren, so bilden sich Fasern», erklärt Näf.

Textur, Geschmack und Nährwert müssen stimmen
Damit aber aus in Reaktoren gezüchteten Zellen ein eigentliches Fleischstück wie etwa ein Steak entsteht, braucht es weitere Schritte. «Anders als in der regenerativen Medizin geht es beim kultivierten Fleisch nicht darum, einen Muskel herzustellen, der Gewichte heben kann», sagt Näf. Doch müsse ein Stück Fleisch bezüglich Textur, Geschmack und Nährwertprofil bestimmte Eigenschaften haben. «Für ein Steak existiert bislang ein erster Prototyp», sagt Näf.

Derzeit erforscht Mirai zudem, wie Laborfleisch zu marktfähigen Preisen produziert werden kann. Dafür habe das Start-up von der schweizerischen Agentur für Innovationsförderung (Innosuisse) Forschungsgeld erhalten.

Eine weitere Hürde stellt die Zulassung durch das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit (BLV) dar. Nach Angaben des BLV fällt kultiviertes Fleisch unter die Definition von «Novel Food», also neuartigen Lebensmitteln gemäss Lebensmittelverordnung (LGV). Näf von Mirai Foods geht davon aus, dass das Bewilligungsverfahren ressourcen- und zeitintensiv sein wird. Mirai werde nachweisen müssen, dass der Verzehr des Laborfleischs unbedenklich sei.

Das Unternehmen habe sich in Sachen Zulassung und Sicherheit mit anderen europäischen Start-ups zusammengeschlossen, dem Konsortium «Cellular Agriculture Europe». Schliesslich orientiere sich die Schweiz bei der Lebensmittelzulassung am europäischen Lebensmittelrecht.

Nestlé: Kollaboration mit israelischem Start-up
Dass Laborfleisch mehr ist als eine Utopie von einzelnen Start-ups, zeigt das Interesse von grossen Konzernen am Thema. Im Sommer 2021 gab Nestlé bekannt, dass Wissenschaftler der hauseigenen Forschung in Lausanne mit dem israelischen Fleischkulturen-Start-up «Future Meat Technologies» zusammenarbeiten, um das Potenzial von Fleischkulturen zu erforschen. Gegenüber der Tierzucht reduzierten diese den Bedarf an Land und Ressourcen.

Auch die Fleischverarbeiterin Bell Food Group sieht für die neue Technologie offenbar grosses Potenzial: 2018 und 2020 hatte das Unternehmen laut Medienberichten insgesamt sieben Millionen Euro in das niederländische Laborfleisch-Start-up Mosa Meat investiert.

Konkurrentin Migros will mit dem Aromen- und Riechstoffkonzern Givaudan sowie dem Maschinenbauer Bühler das Innovationszentrum «Cultured Food Innovation Hub» aufbauen. In dem Labor in Kemptthal ZH soll unter anderem zu Zellkulturen und Biofermentation geforscht werden. Der «Cultured Food Innovation Hub» soll somit auch eine Pilotanlage für kultiviertes Fleisch sein.

Laut einer Studie des US-amerikanischen Beratungsunternehmens A. T. Kearney von 2019 könnte Laborfleisch im Jahr 2040 einen Marktanteil von 35 Prozent erreichen.

Weniger Fleisch essen, um Planeten Sorge zu tragen
Somit dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Gastronomen ihren Gästen kultiviertes Fleisch servieren werden. «Wir sind sehr offen gegenüber Fleisch, welches aus Stammzellen gezogen wird, und denken, dass wir dies auch in unseren Restaurants anbieten werden», erklärt auf Anfrage Daniel Wiesner von der Familie Wiesner Gastronomie AG. Zum Unternehmen gehört nebst diversen anderen Restaurantkonzepten auch die Restaurant-Kette «The Butcher», in welchem Burger eine Hauptrolle spielen. «Meiner Meinung nach müssen wir alle in Zukunft viel weniger richtiges Fleisch essen und so unserem Planeten viel mehr Sorge tragen», sagt Wiesner. Voraussetzungen seien ein massentauglicher Preis und überzeugende Qualität – dann sei In-vitro-Fleisch eine gute Alternative.

Auch Rolf Hiltl, Geschäftsführer der Hiltl-Restaurants in Zürich, ist gegenüber dem kultivierten Fleisch aus dem Reaktor positiv eingestellt. «Zellbasiertes Fleisch ist vegetarisch», sagt Hiltl. Schliesslich seien Milch oder Eier auch vegetarisch. Relevant sei, dass kein Tier getötet werden müsse.