Seit diesem Jahr schreibt Weinpublizist Stefan Keller in jeder zweiten Ausgabe der htr hotel revue die Weinkolumne «Weinlese». Wer aber ist Stefan Keller, der in der Valtellina als Weinproduzent tätig ist? Wir haben ihn auf ein Glas getroffen.

Stefan Keller, welche Ansprüche stellen Sie an Ihre Kolumnen?
Sie sollten einen Erkenntnisgewinn bieten, ohne belehrend zu sein. Sie sollten unterhaltsamer Lesegenuss sein, der Geschichten vermittelt und eine Note Persönliches reinbringt. Der Inhalt sollte ein Amuse-Bouche sein, das Lust macht auf mehr.

Sie empfehlen in jeder Kolumne Weine und wählen Produzentinnen aus, über die Sie schreiben. Sind Sie bestechlich?
Wäre ich bestechlich oder in irgendeiner Form abhängig von jemandem, wäre das mein Untergang als Weinkritiker. Die Glaubwürdigkeit ist mein Kapital. Dennoch ist jede Kolumne natürlich auch subjektiv, und Wein ist keine exakte Wissenschaft.

Sie sind auch als Weinproduzent tätig. Ist der eigene Wein immer der beste?
Wer sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, wird dies kaum von seinem eigenen Wein sagen. Er wird ihn in einer Blindverkostung wohl nicht mal erkennen. Er wird eher ein ewiger Zweifler sein in dem, was er tut. Wein ist eine Schule der Demut – sei es in der Produktion, sei es beim Verkosten.

Auch ein Leidensweg?
Ja, für gewisse Leute schon, denn man kommt kaum je dorthin, wo man hinkommen möchte. Man hat nur einmal pro Jahr die Gelegenheit, ein Produkt so zu machen, wie man es sich erhofft hat. Damit muss man dann leben, und auch leben können. Das ist das Schreckliche bei der Weinproduktion. Die Seele, der Inhaltsstoff der Trauben, ist jedes Jahr ein Geheimnis, das es neu zu entdecken gilt. Die Zutaten, ein Fass, ein Tank, die Luft, die Hefe, die Abfüllung – es geschieht, ich kann nicht alles steuern. Es braucht viel Erfahrung und Intuition.

Welches war Ihr emotional schönstes Erlebnis mit Ihren unberechenbaren Trauben?
Es ist ein bisschen ein kitschiges Erlebnis: Wir hatten in der Valtellina 1999 einen Wein aus Syrah gemacht und hatten einen Glücksfall gelandet; das war einfach ein toller Wein. Er hat uns begeistert. Wir hatten keine Referenzen, es war eine Entdeckung. Das in einer Flasche zu haben, in einer Holzkiste mit einer schönen Etikette, ist etwas, das mir grosse Freude bereitet hat.

Wein ist eine Schule der Demut – sei es in der Produktion, sei es beim Verkosten.

Stimmt die Gleichung: je älter und je teurer, desto besser?
Das ist abhängig vom Weintypus. Bei gewissen Prestigeprodukten wie Ornellaia oder Château Mouton-Rothschild kann das Alter, zum Beispiel der Jahrgang 1945, zu einem Sammlerobjekt werden. Je älter ein Wein, desto weniger Flaschen gibt es davon. Diese Verknappung kann den Preis in die Höhe treiben. Aber Wein ist ein heikles Sammler- und Spekulationsgut.

Wenn einem ein Hotelier eine alte Flasche schmackhaft machen will, ist also Vorsicht geboten?
Ein alter Wein sollte aus einem gepflegten Keller stammen und nicht aus einem vernachlässigten. Einen gepflegten Keller zu haben, bedeutet viel Arbeit und Aufmerksamkeit. Es ist mehr eine Prestige- oder USP-Angelegenheit, wenn ein Haus alte Weine pflegt, als eine wirtschaftlich interessante Geschichte.

Wertschätzen Schweizer Gastronomen die Schweizer Weine ausreichend?
Ja. Punktuell mag es so sein, dass ausländische bevorzugt werden. In Südtirol zum Beispiel stammen 90 Prozent der Weine auf einer Karte aus Südtirol, auch im Wallis werden die Weine der Region bevorzugt.

Ein Freund der Trauben, Schnäpse und der schönen Geschichten
Stefan Keller ist Publizist. Als regelmässiger Autor der «Schweizerischen Weinzeitung» schreibt er unter anderem über Wirtschaftsthemen. Zu seinen Spezialitäten zählen Porträts und Reportagen, die im Auftrag für Medien und Firmen entstehen. Er organisiert und moderiert Veranstaltungen ganz unterschiedlicher Couleur. Keller ist in der lombardischen Valtellina als Weinproduzent tätig und produziert mit Schnaps.ch auch Schweizer Destillate. Er zählt zu den Gründern der Vereinigung Mémoire des Vins Suisses, ist Ehrenmitglied des Sommelier-Verbands Schweiz und in der Berufsbildung von Winzerinnen und Winzern tätig. Stefan Keller lebt und arbeitet in der Schweiz und in Wien.

Wie steht es um den Ruf des Schweizer Weins im Ausland?
Das Renommee verbessert sich. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Schweiz an wenigen Orten auf dieser Welt als Weinland bekannt ist. Bei der Toskana zum Beispiel ist das anders, da bin ich mitten im Thema drin. Gemessen an der weltweiten Produktion sind die Schweizer Quantitäten vernachlässigbar. Ein Prosecco-Winzer in der Toskana hat mich mal gefragt: Und ihr Schweizer, macht ihr eigentlich auch Wein? Seine Frage hat mich weder überrascht noch beleidigt. Wir sind ein Käse-, Uhren-, Banken- und Schokoladeland, kein Weinland.

Hat der Schweizer Wein auch wegen der Marge ein schwieriges Dasein im Gastgewerbe?
Über die Weine will sehr viel mitfinanziert werden, sie sind im Vergleich zum Rest auf der Karte teuer. Das ist für den Schweizer Wein Gift. Er ist in der Summe deutlich teurer als ausländischer Wein. Will ein Gastronom mit seiner Weinauswahl Geld verdienen, dann greift er nicht bei den Schweizer Weinen zu. Geld wird mit Prosecco, Verdejo, Grünem Veltliner oder mit einem Sauvignon von irgendwo verdient. Mit Schweizer Wein kommt man nie in diese Gewinnmargen rein.

Ist heute gut, was natürlich hergestellt wird?
Bio ist eine Haltung, die ich begrüssenswert finde und die für unsere Umwelt positiv ist. Auf das Produkt kann bio Rückwirkungen haben.

Welche?
Es kann sein, dass Winzerinnen und Winzer, die biologisch, biodynamisch oder bioorganisch produzieren, auch in anderen Bereichen reflektierter mit Fragestellungen umgehen. Sie denken oder handeln weniger in altbekannten Schemata. Sie nehmen mehr Risiken auf sich und verlassen die Komfortzone. Oft entstehen dann gute Produkte, wenn sie etwas dem rauen Wind ausgesetzt sind. Das kann neue Wege eröffnen, bringt aber auch vieles ins Wanken.

Da schwingen Ängste mit.
Ja, die Angst, dass am Schluss keine Trauben mehr da sind, dass man die Rechnungen nicht bezahlen kann. Die Umstellung kann jedoch die Präsenz bei der Arbeit schärfen, ich bin ganz anders dabei, ich bin aufmerksamer und schaue genauer hin. Keiner oder keine, der oder die umgestellt hat, ist je zurückgegangen – trotz aller Schwierigkeiten. Roland und Karin Lenz haben zwar eine solche Kehrtwende gemacht, aber heute produzieren sie nur noch Piwis. Es gibt kein Zurück zur Chemie.

Wie haben Sie bei sich die Umstellung auf biozertifiziert erlebt?
Mit deutlichen Ertragseinbussen, einer Veränderung der Trauben und der Blätter. Die analytischen Werte veränderten sich zum Guten, denn wir hatten mehr Säure im Wein. Es war jedoch erschreckend, zu sehen, wie lange es gedauert hat, bis der Boden wieder revitalisiert war, nachdem er über Jahrzehnte totgespritzt worden war.

Wie reagierte das Umfeld?
Es wirkte rundherum ansteckend. Und Generationenwechsel beschleunigen den Wandel auch. Das Ausland hat die Schweiz jedoch überflügelt: In Österreich sind schon über 15 Prozent der Rebflächen biozertifiziert; in der Schweiz sind es 8 bis 9 Prozent. Der prozentual höchste Anteil mit über 50 Prozent befindet sich in Neuenburg.

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Welche Fehler sollte ein Gastgeber beim Zusammenstellen seiner Weinkarte vermeiden?
Es kommt vor, dass die Aussage der Küche nicht mit der Aussage der Weinkarte übereinstimmt. Überspitzt gesagt: Eine leichte, saisonale Küche harmoniert nicht mit Weinen wie Primitivo oder Ripasso, Bordeaux oder alten Riojas. Es ist ein grosser Fehler, wenn der Koch und der Sommelier nicht miteinander sprechen.

Und innerhalb der Weinkarte, gibt es da No-Gos?
Oft gilt: Weniger ist mehr. Es ist fein, 20 Weine zu haben, die eine Ansprache haben und von denen die Servicemitarbeitenden wissen, warum sie welchen Wein ausschenken. Manche wollen sich auch über die Auswahl der Weine in einem Betrieb verwirklichen. Das Problem daran: die vielen Wechsel in der Branche. Kaum hat einer eine Weinkarte zusammengestellt, ist er auch schon wieder weg. Der nächste bastelt daran weiter, und am Schluss weiss niemand mehr, welcher inneren Logik die Auswahl der Weine folgt. Die Identität fehlt.

Gibt es Gerichte, die nach einer bestimmten Rebsorte verlangen?
Es gibt aus meiner Sicht und pauschal gesagt zu viele Rotweine und zu wenige Weissweine auf den Karten. Denn es gibt immer mehr Gerichte – auch in Bezug auf eine vegane, leichtere Küche –, die andere Weine brauchen. Weine mit wenig Tannin, wenig Holznoten, wenig Alkoholsüsse, Wein mit wenig Säure und mit Leichtigkeit.

Ist die Produktion an Weissweinen denn generell zu klein?
Die Produktion von Rot- und Weissweinen hält sich die Waage, auch in der Schweiz. Die Welt der Weissweine ist unglaublich facettenreich und vielfältig und gut zu kombinieren. Kürzlich ass ich Pom, ein surinamisches Gericht. Alle Rotweine überzeugten in der Kombination nicht. Ein Marsala 1995 aber, trocken und mürb, war umwerfend dazu. Ein solches Erlebnis bleibt unvergessen. Da stimmte einfach alles.

Geld wird mit Prosecco, Verdejo, Grünem Veltliner oder mit einem Sauvignon von irgendwo verdient.

Warum also nicht zur Gerstensuppe Champagner trinken?
Ja, genau, liegt nicht auf der Hand, schmeckt aber wunderbar. Grossartig. Und es erstaunt mich immer wieder, wie viele noch immer nicht wissen, dass Rotwein und Käse nur selten zusammenpassen. Dabei ist es so offensichtlich.

Gibt es einen schwierigen Wein?
Ja, ein Primitivo oder ein Amarone. Nur wenige Gerichte lassen sich mit ihnen kombinieren. Als ich noch ein kleines Hotel im Engadin führte, servierte ich einmal ein Gericht aus Nudeln, Gorgonzola, in Amarone eingelegten Rosinen und grünen, angerösteten Pistazien. Das war zum Niederknien. Dieses Salzig-Fettige des Gorgonzola und das Süsse des Amarone – beides Extreme. Das waren zwei Bomben, die mit dem Amarone ein Feuerwerk ergaben.

Haben Sie einen Lieblingswein?
Ich bin begeistert vom Vin jaune aus dem französischen Jura. Der ist überirdisch, ein totaler Querschläger. Glücklich macht mich auch ein 1999 Colheita-Portwein von Dirk Niepoort, der hat eine Feinheit ... (schmatzt), der ist wie Seide auf der Zunge. Zum Glück erlebe ich immer wieder solche Entdeckungen, das hält mich bei Laune. [DOSSIER]

Wenn Sie eine Rebsorte wären, welche wäre das?
Ich wäre eigentlich lieber eine Katze als eine Rebsorte. (lacht) Aber wenn es doch eine Rebsorte sein muss, dann möchte ich eine wilde Liane in der Toskana sein, eine Rebsorte, die nicht kultiviert ist, die einen Baum hochklettert, ein paar Trauben macht, welche die Vögel dann fressen.

Stefan Keller hat nebst Wein noch andere Leidenschaften: Er ist ein erfolgreicher Degenfechter, ausdauernder Radler und grosser Kulturfan.