Vincenzo Ciardo, wie fühlen Sie sich nun als «Bürolist» gegenüber früher als Hotelier?

Bin ich einen oder zwei Tage pro Woche im Büro, ist dies viel. Als Verantwortlicher für die Operations der Hotels bin ich viel unterwegs und halte mich oft in den Hotels auf. Also bin ich mehr in den Hotelbetrieben und an Sitzungen oder Terminen als im Büro. Allerdings hatte ich in den ersten paar Monaten mit meiner neuen Funktion etwas Mühe. Denn zu Beginn fehlte mir der gewohnte Alltag mit dem Team im eigenen Hotel und den direkten Gestaltungsmöglichkeiten. Es war für mich eine grosse Umstellung. Aber heute fühle ich mich in der neuen Rolle sehr wohl und habe das Gleichgewicht gefunden.

Was bedeutet die im vergangenen Herbst erfolgte Beförderung zum Vice President Operations Central Europe South für Sie persönlich als relativ junger Manager?

Man schaut in den Spiegel und sagt sich: Wow!, jetzt bist du plötzlich für über 40 Hotels verantwortlich. Mit dieser Beförderung erhielt ich die Anerkennung für die Arbeit, die ich als junger Hoteldirektor mit Innovationen und Drive im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten umzusetzen versuchte. Dass mich Accor als die richtige Person erachtet, um Dynamik in die sich stark wandelnde Gruppe zu bringen, zeugt davon, dass ich für eine Gruppe arbeite, die jungen Talenten mit Leidenschaft für die Hotellerie tolle Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Gleichzeitig ist mir auch bewusst, dass man diese Chance nur einmal erhält, und entsprechend richtig Gas geben muss. Ich blicke auf eine sehr steile Lernkurve zurück. Man führt Häuser und Direktoren, die teilweise viel länger dabei sind als ich. Es geht darum, das notwendige Feingefühl zu entwickeln, wie man gemeinsam das Beste erzielen kann.

Wurden Sie von Beginn weg als junger Vorgesetzter dieser Direktoren mit mehr Seniorität akzeptiert, oder stiessen Sie auch auf Widerstand oder gar Ablehnung?

Natürlich wird man zu Beginn kritisch hinterfragt. Aber wenn man mit einer gewissen Lockerheit und Professionalität an die Sache herangeht und die Leidenschaft für die Tätigkeit unter Beweis stellt, funktioniert es. Grundsätzlich haben wir alle das gleiche Interesse, nämlich das Bestmögliche für den Gast aber auch bezüglich Resultate zu realisieren. Wichtig ist auch, dass man rhetorisch und didaktisch die richtige Sprache spricht und nicht von oben herab führt. Konstruktiv beobachten, zuhören und von Menschen lernen war immer meine Devise. Ich bin mir bewusst, dass ich nicht alles kann. Aber ich kann es lernen, indem ich den Leuten zuhöre.

Welches ist Ihre Aufgabe in Ihrer neuen Funktion?

Die operative und strategische Ver-
antwortung für die sich in meinem Perimeter befindenden Hotels. Dieser Perimeter umfasst die Schweiz, Südwestdeutschland und einen Betrieb in Österreich. Ich sehe mich heute eigentlich als eine Art Consultant sowohl für die Hoteleigentümer, in meinem Fall meist Accor Invest, als auch für den Hoteldirektor und sein Team. Es geht auch darum, neue Projekte und Innovationen einzubringen. Wir wollen vorwärtsgehen und nicht stillstehen. Dies im Sinne des Gastes, der Mitarbeitenden und der Gruppe.

Nehmen Sie Einfluss auf die Leitung und Betriebsführung der Hotels?

Ja klar, aber nicht alleine. Mein Führungsstil ist nicht top down, sondern ich setze auf Kooperation mit den Experten vor Ort, also mit dem Direktor und seinen Mitarbeitenden. Die letzte Entscheidung liegt bei mir, dafür bin ich auch angestellt. Ich versuche jedoch, möglichst viel gemeinsam mit den Stabstellen und Supportfunktionen des Hauptsitzes zu entscheiden.

Accor ist eine international stark wachsende Gruppe. Wie sehen die weiteren Pläne für die Schweiz aus?

Die Schweiz ist nach wie vor ein interessanter Markt. Das Wachstum von Accor hierzulande war in den vergangenen Jahren gross. Hoffentlich wird dies so weitergehen, jedoch nicht um jeden Preis. Denn es muss Sinn machen. Das heisst, man muss die richtigen Partner und den richtigen Standort haben. Angekündigt wurden bereits neue Hotels in St. Gallen und Sierre. Eine Zielgrösse betreffend künftiger Neueröffnungen haben wir keine offizielle.

Vincenzo Ciardo (34) ist seit 
1. September 2018 Vice Presi-
dent Operations Central Europe South bei Accor. Zuvor war er General Manager der Berner Expo-Hotels Ibis Bern, Ibis Budget und Novotel. Seine Karriere hatte Ciardo bei Accorhotels 2010 als Assistent Manager im Ibis Bern Expo begonnen. Der italienisch-schweizerische Doppelbürger hatte die Hotelfachschule Thun und danach den Bachelor in Hospitality & Tourism Management sowie zusätzliche Weiterbildungen absolviert. Ciardo, der 2017 für den «Milestone»-Tourismuspreis in der Kategorie Nachwuchs nominiert war, ist Präsident von Skål Bern, Stiftungsratsmitglied der Hotela und Vorstandsmitglied des Fördervereins von Bern Tourismus. (dst)

Sie geben sich bescheiden. Accor-CEO Sébastien Bazin hat im März 2019 erklärt, dass die Anzahl der Hotels in der Schweiz in den kommenden Jahren um 20 bis 25 Prozent erhöht werden soll. Expansionsziele seien die Städte Zürich, Basel und Genf.

Sébastien Bazin hat grossartige Visionen, die er oft auch umsetzt. Ziele müssen möglichst hoch angesetzt werden, kleiner werden sie von selbst. Die Umsetzung dieser Ziele wäre schön. Ansätze sowie das Interesse sind vorhanden und der Markt gibt dies auch her. Die drei erwähnten Grossstädte stehen sicher immer im Fokus. Ich sehe aber auch für sekundäre Destinationen in der Schweiz Potenzial.

Beschränkt man sich auf Städte, oder ist auch ein Accor-Betrieb im Alpenraum denkbar?

Grundsätzlich ist alles möglich. Die schweizerische alpine Hotellerie ist von höchster Qualität, nach wie vor rentabel und interessant. Die Möglichkeit dazu besteht aufgrund unserer Markenvielfalt sicher. Ein Beispiel ist etwa das Mövenpick-Ferienresort-­Projekt in Savognin.

Auch bei Kettenhotels wünschen die Gäste vermehrt individualisierte Angebote. Wie gehen Sie mit der Gratwanderung von Kettenbetrieb und Individualisierung um?

Accor hat erkannt, wie wichtig die Individualisierung ist. «One size fits all» existiert nicht mehr, auch in der Hotellerie nicht. Viele individuelle Bedürfnisse kann die Accor-Gruppe durch das sehr breite Markenportfolio abdecken. Auch soll jeder Betrieb den lokalen Begebenheiten Rechnung tragen. Gerade im F&B haben wir Konzepte mit lokalen Angeboten entwickelt, um einen Begegnungsort zu schaffen, an welchem sich auch Nicht-Hotelgäste wohlfühlen und die Dienstleistungen nutzen können.

Ist «My Room by Accor Hotels» auch ein Mittel zur individuellen Gestaltung?

Ganz klar. Dies wurde vor rund drei Jahren lanciert, um eine Personalisierung und Storytelling in die Betriebe zu bringen. Bei diesem Konzept erhalten Mitarbeitende die Möglichkeit, ein Zimmer nach ihren persönlichen Vorstellungen zu gestalten. Diese Zimmer werden entsprechend vermarktet und erfreuen sich einer grossen Nachfrage. Wir haben Stammgäste, die sich jeweils nach dem Zeitpunkt der Realisierung eines nächsten derartigen Zimmers erkundigen. In vielen Hotels stehen 
3 bis 5 Prozent der Gesamtzimmeranzahl für diese individuelle Gestaltung durch Mitarbeitende zur Verfügung.

Unterdessen gehören 38 Marken zur Accor-Gruppe. Dies sieht nach einem Gemischtwarenladen aus.

Nein überhaupt nicht. Es ist zwar tatsächlich ein sehr breites Markenportfolio. Ein solches stellt jedoch heute eine Stärke einer Hotelgruppe dar. Denn die Gästebedürfnisse sind nicht mehr die gleichen wie früher. Durch die Markendiversifizierung kann auf die sich sehr schnell verändernden Gästebedürfnisse reagiert werden. Der Geschäftsreisende, der unter der Woche im Hotel logiert, hat andere Bedürfnisse, als wenn er am Wochenende mit seiner Familie oder seiner Partnerin im Hotel übernachtet. In diesem Zusammenhang ist auch unser neues Lifestyle-Treueprogramm zu sehen. «ALL» (Accor live limitless) bietet im Rahmen einer weltweit integrierten Plattform Prämien, Dienstleistungen und Events an allen Accor-Standorten, um das Leben der Gäste bei der Arbeit, in den Ferien und zu Hause zu bereichern.

Sind dafür effektiv 38 verschiedene Marken notwendig?

Ja. Ein derart breites Brand-Portfolio ist auch bei anderen Grosskonzernen sehr wichtig. Der Gast beziehungsweise der Konsument ist heute markenaffin. Jeder hat seine Lieblingsmarke. Die Unternehmen positionieren sich heute durch eine Markenlandschaft. Wichtig ist dabei, dass man jeder Marke ihre eigene Identität belässt.

Im Jahr 2018 hat Accor die Mövenpick Hotels übernommen und in die Gruppe integriert. Davon hat sich Accor eine Festigung der Position auf dem europäischen Markt und den Ausbau des Wachstums in den Schwellenländern erhofft. Hat man dieses Ziel erreicht?

Obwohl die Luxury-Division mit den Mövenpick Hotels nicht zu meinem Bereich gehört, arbeiten wir relativ eng zusammen. Ich persönlich bin stolz, dass wir Brands wie Mövenpick und Swissôtel in unserem Markenportfolio haben.

Wann wird sich die stark steigende Wachstumskurve von Accor bezüglich Anzahl Betriebe abflachen?

Eine Wachstumsabflachung wird sicher dereinst einmal einsetzen. Im Moment ist Konsolidierung angesagt. Sollten sich hingegen Möglichkeiten bieten, etwas weiterzuentwickeln, das nicht erwartet oder geplant war, werden die Accor-Verantwortlichen diese Chancen sicher nutzen. Sie sind aber auch willens, allenfalls auch Nein zu sagen. Dies sind jedoch Entscheide, die nicht auf meiner Stufe gefällt werden.