Sehen: Perfekt optimierte Ästhetik – oder langweilig?
Ein perfekt designtes Hotel ist heute kein Kunstwerk, sondern das Resultat von Big Data. Künstliche Intelligenz weiss, welche Farben beruhigen, welches Licht für Instagram-Selfies schmeichelhaft ist und wie viele Pflanzen ein Hotel braucht, um «urban jungle» auszustrahlen. Das hat Vorteile: kein grelles Licht beim Date im Restaurant, kein Teppichdesign, bei dem man sich fragt, ob es eine Industrie für kreative Farbkombinationen gibt. Aber es gibt auch eine Kehrseite: Wo bleibt die Individualität, wenn alles auf Berechnung basiert? Das Ambiente ist makellos, aber wo ist der kreative Wahnsinn, der Charme des Imperfekten, die Überraschung?
Hören: Die Stimme der Gastfreundschaft – menschlich oder mechanisch?
Früher: «Guten Abend, Herr Meier, schön, dass Sie wieder da sind!» Heute: «Ihr Anruf ist uns wichtig. Drücken Sie die 1 für ein Upgrade, die 2 für einen neuen Türcode oder die 3, um mit einem echten Menschen zu sprechen (voraussichtliche Wartezeit: 37 Minuten).» Digitale Assistenten sind nützlich. Sie verstehen (meistens), was man sagt, haben nie schlechte Laune und arbeiten rund um die Uhr. Aber die warme, persönliche Stimme einer Gastgeberin kann keinen Chatbot ersetzen. Und wenn uns der Kellner «Den Rotwein kann ich Ihnen sehr empfehlen!» ins Ohr flüstert, klingt das verlockender als ein Pop-up-Fenster mit «Unsere Top-Weinauswahl für Sie». [RELATED]
Riechen: Der Duft der Erinnerung – personalisiert oder steril?
Gerüche sind mächtig. Der Duft von frischem Kaffee am Morgen, von Meer und Sonnencreme oder von warmem Zimtgebäck kann Erinnerungen wecken, die tiefer gehen als jedes Marketingversprechen. Hier bietet die Digitalisierung faszinierende Möglichkeiten: Smarte Duftsysteme verwandeln eine Lobby in eine Oase der Entspannung oder schaffen in Sekunden eine weihnachtliche Atmosphäre. Dies ermöglicht grossartige Anknüpfungspunkte mit dem Gast, aber manchmal riecht «intelligente Raumbeduftung» leider mehr nach Duty-Free-Shop als nach heimeliger Gemütlichkeit. Die Frage stellt sich: Sollte ein System das improvisierte Aroma eines frisch gebackenen Kuchens ersetzen? Oder gibt es vielleicht doch bald Duftabos: «Jetzt upgraden auf ‹Erinnerung an den Sommer 2024›.»
Hotellerie und Gastronomie sind ein Fest für die Sinne – oder sollten es zumindest sein. Doch wenn Chatbots charmante Kellner ersetzen und Algorithmen die Menüwahl übernehmen, stellt sich die Frage: Kann Technologie die Magie echter Gastfreundschaft verstärken – oder laufen wir Gefahr, dass sie am Ende dem Erlebnis die Seele raubt?
Mensch oder Maschine: Die Balance ist entscheidend
Natürlich hat Technologie ihre Vorteile. Niemand vermisst das endlose Warten auf eine Bedienung oder den Papierkram beim Check-in. Aber die Frage bleibt: Wie viel Digitalisierung verträgt die Gastfreundschaft, bevor sie seelenlos wird? Die Gefahr ist real: Wenn Effizienz zum Selbstzweck wird, geht das verloren, was Gastfreundschaft einzigartig macht. Die Zukunft liegt also nicht in der Entscheidung für oder gegen Technologie, sondern im richtigen Gleichgewicht. Smarte Systeme können Mitarbeitende entlasten, aber sie sollten sie nicht ersetzen. Digitale Assistenten können das Gästeerlebnis optimieren, aber sie dürfen nicht die menschliche Note auslöschen. Am Ende bewertet ein Gast nicht, wie effizient ein Hotel ist – sondern wie es sich anfühlt. Und das kann kein Algorithmus berechnen!
Fühlen: Die Haptik der Gastlichkeit – digital oder persönlich?
Ein Hotel kann noch so smart sein – wenn sich das Kopfkissen anfühlt wie eine Betonplatte und die Touchscreens nicht reagieren, ist der Ärger vorprogrammiert. Gastfreundschaft ist ein physisches Erlebnis. Der Handschlag zur Begrüssung, die weiche Tischdecke, das kühle Glas in der Hand – all das macht den Unterschied. Hier zeigt sich das wahre Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine: Automatisierung kann Prozesse verschlanken, aber kann sie auch Berührung ersetzen? Ist es wirklich Fortschritt, wenn Gäste durch ein Hotel gehen, ohne einmal echten Kontakt zu einem Mitarbeiter zu haben?
Schmecken: Algorithmen als Sommeliers?
Früher gab es Empfehlungen vom Chefkoch oder dem Barkeeper Ihres Vertrauens. Heute? «Basierend auf Ihren letzten Bestellungen und Ihrem Instagram-Profil empfehlen wir Ihnen den Avocado-Burger mit Süsskartoffel-Pommes.» Klingt schlau, aber ist das noch Genuss oder schon kulinarische Fremdbestimmung? Die Digitalisierung hat die Art verändert, wie wir Essen und Trinken erleben. Smarte Weinkarten analysieren Geschmacksvorlieben, ein Algorithmus kann aus Tausenden von Gästebewertungen ableiten, welches Gericht besonders gut ankommt. Aber Genuss ist oft irrational. Ein guter Kellner sieht, wenn Sie heute Lust auf etwas Besonderes haben, ein Algorithmus sieht Zahlen. Was ist mit den spontanen, unvernünftigen Bestellungen, den Experimenten, den Geschichten hinter den Gerichten?
Nicole Hinrichs ist Prorektorin der Graduate School an der EHL in Lausanne.