Die Destination Andermatt sorgt immer wieder für Gesprächsstoff – zuletzt vor wenigen Tagen, als bekannt wurde, dass der US-Konzern Vail Resorts in die Urner Destination investiert. Beatrice Durrer, Professorin am Institut für Soziokulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern, hat sich seit 2009 intensiv mit dem Resort und seinen Folgen für die Bevölkerung auseinandergesetzt.

Frau Durrer, müssen die Erkenntnisse aus zehn Jahren Langzeit- und Begleitstudien nach dem Einstieg von Vail Resorts neu gedacht werden?

Nein, das glaube ich nicht. Vermutlich wird alles globaler und gewinnorientierter. Schliesslich ist Vail Resorts ein börsenkotiertes Unternehmen. Für die Einheimischen wird es vermutlich noch schwieriger, ihre Interessen einzubringen. Bezeichnend dafür war, dass die Gemeinde nicht vorgängig, sondern erst mit den Medien über die Beteiligung informiert wurde. Wenn ich eine Befürchtung formulieren soll, dann die, dass die Verhandlungen in Zukunft härter werden dürften für die Gemeinde.

Zur Person
Ein kritisches Auge auf Andermatt

Das Tourismusresort Andermatt hat das Dorf und die ganze Region massgeblich verändert. Mit welchen Folge für die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Standortgemeinde, das haben die Departemente Soziale Arbeit und Wirtschaft der Hochschule Luzern zwischen 2009 und 2020 mit einer Langzeit- und Begleitstudie in vier Teilstudien untersucht. Die Projektleiterin Beatrice Durrer ist Professorin am Institut für Soziokulturelle Entwicklung und seit 2004 Dozentin an der Hochschule Luzern. Die Agronomin hat nach ihrem Studium an der ETH als Beauftragte für Umwelt-, Natur- und Landschaftsschutz der Gemeinde Horw und später in der Erwachsenenbildung im Umwelt- und Naturschutzbereich gearbeitet.

Wie offen ist Samih Sawiris für die Anliegen der Bevölkerung?

In den 15 Jahren, in denen Samih Sawiris vor Ort tätig war, ist er immer wieder mit der Bevölkerung in einen Dialog getreten. In unserer ersten Teilstudie kam klar heraus, dass die Andermatt Swiss Alps, die ASA, stärker das Gespräch mit der Bevölkerung suchen soll. Dieser Wunsch wurde aufgenommen, und das Unternehmen hat angefangen, Dialoganlässe durchzuführen – statt der grossen Infoveranstaltungen mit mehreren Hundert Leuten.

Was sind die positiven Folgen des Tourismusresorts für Andermatt und seine Bevölkerung?

Uns wurde rasch klar, dass die Bevölkerung das Resort nicht einheitlich bewertet. Von Anfang an gab es Leute, die begeistert waren vom Projekt. Andere waren ambivalent, sahen Chancen, aber auch mögliche negative Folgen. Wieder andere sahen eher den Verlust als den Gewinn. Wobei man klar sagen kann: Der grösste Teil der Bevölkerung ist positiv oder ambivalent eingestellt. Sie sehen, dass in Andermatt die Infrastruktur besser geworden ist, dass es mehr Lehrstellen und Arbeitsplätze gibt und dass es für Andermatt eine neue Zukunft als Tourismusdestination gibt.

Haben sich die Meinungen mit der Zeit geändert?

Ja. Wir wissen aus der Literatur, dass die gemachten Erfahrungen die Haltungen zur touristischen Entwicklung verändern. Einige waren anfangs sehr skeptisch. Als sie aber eine Anstellung im Resort bekommen haben, beurteilten sie das Projekt danach viel positiver. Höhere Mieten, der Verlust der Landschaft und der früheren Gemeinschaft, die fehlende Mitsprache können sich negativ auswirken. Anfangs gab es eine starke Opposition, die sich mit der Zeit aber aufgelöst hat. Wir wissen nicht, weshalb: Haben die Leute resigniert, sind sie weggezogen oder wurden sie überzeugt?

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Bei den positiven Folgen scheint es vor allem ums Geld zu gehen.

Nein, das wäre zu undifferenziert. Die Einwohner profitieren zum Beispiel auch von den besseren Freizeitmöglichkeiten, von einem ausgebauten Skigebiet, von einer neuen Konzerthalle, von zusätzlichen Wanderwegen. Aber natürlich: Wer finanziell vom Resort profitiert, ist in der Regel auch positiver dazu eingestellt.

Dann sind die Leute, die finanziell profitieren, in der Mehrzahl?

Dazu fehlen uns die Statistiken. Aber es gibt mehr Lehrstellen und neue Arbeitsplätze. Und das Resort wird weiterwachsen. Vail plant, nordamerikanische Touristen anzuziehen und die Zahl der Skier-Days zu steigern. Auf der anderen Seite gibt es bereits heute Kritik, dass das Skigebiet an schönen Wochenenden überlaufen ist und Einheimische auf der Piste gar keinen Platz mehr haben. Zudem wurde das Parkplatzproblem noch nicht gelöst. Letztlich ist es eine diffizile Balance zwischen ökonomischem Profit und dem Preis, den die Bevölkerung dafür bezahlt.

«Andermatt zu einem Zermatt oder St. Moritz machen zu wollen, ist in meinen Augen komplett falsch.»

Droht dieses Gleichgewicht mit dem Einstieg von Vail Resorts zu kippen?

Herr Sawiris und Vail Resorts sagen, sie möchten Andermatt zu einem Zermatt oder St. Moritz machen. Dieser Ansatz ist in meinen Augen komplett falsch. Denn Andermatt ist Andermatt, mit einer eigenen Geschichte und anderen Voraussetzungen. Anders als in Zermatt, wo die Burgergemeinde die grösste Aktionärin der Bergbahnen ist, selber verschiedene Hotels, Gruppenunterkünfte und Restaurants besitzt und die Mehrheit der Hotels KMU in Familienbesitz sind, stand hinter Andermatt von Anfang an ein ausländischer Multimillionär, der keinen Bezug zur Region und ihrer Geschichte hatte. Da gibt es punkto finanzieller Mittel und Managementqualitäten seit Beginn ein Ungleichgewicht, das mit Vail Resorts noch stärker geworden ist. Es stellt sich die Frage: Können die Einheimischen da mithalten oder geht die Schere noch weiter auseinander? Die Antwort darauf kennen wir noch nicht.

Sie sagten, es habe ein Lernprozess stattgefunden, wie die Bevölkerung stärker an Bord geholt werden könne. Geht man in dieser Hinsicht mit dem neuen Investor zurück auf Feld eins?

In meinen Augen ist Herr Sawiris ein lernfähiger Mensch, der unsere Begleitstudie beachtet und das daraus gezogen hat, was ihm nützt. Er hat gemerkt: Ich brauche die lokale Bevölkerung. Dass er bei den Marinas, den Jachthäfen am Urnersee, umgedacht hat, ist ein Hinweis darauf. Ob er das aus Geschäftsinteressen macht oder weil er die Bevölkerung tatsächlich als Partner sieht, weiss ich natürlich nicht. Ich rechne damit, dass diese Kultur erhalten bleiben wird. Die Investoren haben sich dazu bekannt, an den Vereinbarungen mit den Umweltverbänden punkto Dimension des Skigebiets festhalten zu wollen.

Einen Jachthafen hat Sawiris aufgegeben, über den zweiten hat er am Mittwoch nach diesem Gespräch informiert. Wie beurteilen Sie grundsätzlich die Marinas-Pläne, gegen die sich Widerstand regt?

Der Name Marinas verweist auf das Meer. Das passt überhaupt nicht an den Vierwaldstättersee und zeigt einmal mehr den grossen Gap zwischen den lokalen Gegebenheiten und dem globalen Investor. Ich sehe bei den Marinas weniger ein soziales als vielmehr ein ökologisches Problem. Zudem ist der Vierwaldstättersee im Inventar der Landschaften von nationaler Bedeutung. Andererseits ist das Projekt für Herrn Sawiris und seine teils sehr vermögenden Gäste, die im Sommer nicht die ganze Zeit nur wandern wollen, äusserst attraktiv.

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Das Wachstum, das wir in und um Andermatt beobachten – mit den Marinas, der neuen Konzerthalle, den Investitionen ins Skigebiet –, ist das der Fluch für ein Resort, das seine Gäste länger als nur ein paar Tage unterhalten will?

Das Resort ist mittlerweile tatsächlich sehr gross. In Andermatt ist praktisch ein neuer Ortsteil entstanden. Das Schlimmste, was Andermatt passieren könnte, wäre, wenn das Resort nur zu zwei, drei Spitzenzeiten im Jahr belebt und ansonsten leer wäre. Die Bestrebungen von Samih Sawiris, das Resort als Ganzjahresdestination zu positionieren und mit kulturellen Veranstaltungen zu jeder Jahreszeit Leute nach Andermatt zu locken, ist aus Nachhaltigkeitsaspekten eine gute Überlegung.

Zur angesprochenen Zweiteilung des Orts heisst es im Schlussbericht, wie wichtig der Austausch zwischen der Bevölkerung und den Gästen, Zweitwohnungsbesitzern und Angestellten sei. Wie beurteilen Sie den Status quo?

Als wir die Befragungen 2020 abgeschlossen haben, hat es noch Nachholbedarf gegeben. Die Trennung zwischen Alt- und Neu-Andermatt ist auch eine räumliche Trennung, denn der Raum dazwischen ist nicht sonderlich attraktiv. Samih Sawiris hat der Bevölkerung ursprünglich ein Sportzentrum als Verbindungselement zwischen den Ortsteilen versprochen. Das wurde aber nicht gebaut. Und ich weiss nicht, ob es je gebaut werden wird.

Liegt die Verantwortung allein beim Resortbetreiber?

Nein. Für den Austausch zwischen Einheimischen, Zugezogenen und Gästen könnte vor allem die Gemeinde mehr tun. Ein Mitarbeiter unseres Instituts hat ein Projekt in Hasliberg begleitet. Dort wurde von der Gemeinde viel unternommen, um die Ressourcen der Zweitwohnungsbesitzenden zu nutzen. Es gab beispielsweise eine App, über die man sich für Arbeitseinsätze bei lokalen Bauern anmelden konnte.

Zum Einbezug der Bevölkerung ist Transparenz bei den Entscheiden und in der Kommunikation wichtig. Vail Resorts hat den Hauptsitz über 8000 Kilometer von Andermatt entfernt. Ist die Transparenz damit in Gefahr?

Dass die Gemeinde im Vorfeld nicht wusste, dass das Skigebiet an Vail Resorts verkauft wird, sagt viel über das Thema Transparenz und Kommunikation aus.

«In meinen Augen besteht die Gefahr, dass Vail Resorts nun versucht, Rezepte aus Amerika auf Andermatt überzustülpen.»

Worauf müssen die Amerikaner und die ASA achten, um den Goodwill in der Bevölkerung nicht zu verspielen?

Dass sie das, was in Andermatt ist, respektieren und auch die lokalen Nischen stehen lassen und der lokalen Bevölkerung die Möglichkeit geben, Nischen zu besetzen. Nur wenn Expertinnenwissen mit lokalem Erfahrungswissen kombiniert wird, entsteht etwas, das vor Ort stimmig ist. Andermatt braucht nicht dasselbe wie St. Moritz oder Zermatt. In meinen Augen besteht die Gefahr, dass Vail Resorts nun versucht, Rezepte aus Amerika auf Andermatt überzustülpen. Geschieht das zu stark, ist Widerstand garantiert. Zum Beispiel, wenn die lokale Bevölkerung nur noch aus Angestellten besteht und nicht mehr selber unternehmerisch tätig sein kann.

Wird nicht ausgerechnet das lokale Gewerbe untendurch müssen? In Nordamerika kommt möglichst alles aus einer Hand – vom Hotel bis zur Bahn.

ASA führt in Andermatt den Gastrobereich Mountain Food. Eine gewisse Monopolisierung im Gastrobereich auch entlang der Pisten gibt es also schon. Herr Sawiris pflegt bei anderen Destinationen auch eine völlig andere Kultur: In der Stadt El Gouna, die er in Ägypten in die Wüste gebaut hat, kann er jedes Detail bestimmen. Der Wunsch, alles nach den eigenen Vorstellungen zu haben, dürfte im Hintergrund da sein – ohne jemandem etwas unterstellen zu wollen. Was das längerfristig für das lokale Gewerbe bedeutet, lässt sich jetzt noch nicht sagen.

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Wie schätzen Sie die Auswirkungen des Resorts für die Region ein?

Wir haben im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) Umfragen in der Leventina, in der Surselva und im Goms gemacht. Das Seco wollte wissen, ob Gewerbetreibende der Regionen San Gottardo von Andermatt profitieren oder nicht. Dabei ist herausgekommen, dass das Goms sehr für sich funktioniert, es will das Eigene bewahren. Die Surselva ist durch das Skigebiet mit Andermatt verbunden, und es findet ein gewisser Austausch statt. Aber wer von Tagesgästen profitiert, ist die Leventina. Im Kanton Uri selber stellten wir den grössten sozioökonomischen Profit fest.

150 Millionen fliessen mit dem Einstieg von Vail Resorts in die Region. Wie würden Sie dieses Geld einsetzen?

Es stellt sich schon die Frage, wie viel Geld man angesichts des Klimawandels in ein solches Skigebiet, in die künstliche Beschneiung investieren soll. Sollte man nicht besser in die Biodiversität, die Aufwertung der Landschaft oder in die Förderung von sozialen Innovationen und einen nachhaltigen Tourismus investieren? Diese Fragen finde ich durchaus berechtigt. Auch eine Aufwertung der Verbindung von Alt- und Neu-Andermatt wäre ein Gewinn, ebenso Investitionen in die Fussgängerfreundlichkeit vor Ort, in den ÖV.

«Ich denke nicht, dass das Modell Andermatt in der Schweiz Schule machen wird.»

Ausländische Investoren

Die Beteiligung von ausländischen Unternehmen ist im Schweizer Tourismus nichts Neues. So ist am Skigebiet Glacier 3000 (Gstaad BE / Les Diablerets VS) seit 2005 unter anderem Ex-Formel-1-Boss Bernie Ecclestone beteiligt. Und in St. Moritz GR gehören die meisten Bergbahnen (Corvatsch, Diavolezza, Lagalb) den Brüdern Philip und Spyros Niarchos, Milliardären aus Zypern. In Saas-Fee VS wiederum hat die österreichische Schröcksnadel-Gruppe im Jahr 2020 die Mehrheit an der Saastal Bergbahnen AG übernommen, und in Crans-Montana soll der tschechische Unternehmer Radovan Vitek beim Modernisieren der touristischen Infrastruktur helfen. Auch bei Hotels sind ausländische Geldgeber keine Seltenheit. Der Chinese Yunfeng Gao hat sowohl in die Lodge auf der Melchsee-Frutt wie auch ins Grandhotel Europäischer Hof in Engelberg OW investiert (beide heute geführt von der Kempinski-Gruppe). Und das Château Gütsch hoch über Luzern ist mit Alexander Lebedev in russischen Händen. (zwc)

Macht es alles schwieriger, wenn das Geld aus dem Ausland kommt?

Kanton und Gemeinde haben die gewaltige Aufgabe, nicht nur das Geld und die Möglichkeiten zu sehen, die ein Investor bringt, sondern auch zu fragen: Was haben wir noch für öffentliche Interessen, die wir gegenüber dem Investor vertreten müssen – in Sachen Zugänglichkeit, Architektur, Entwicklung, Nachhaltigkeit und so weiter? Und wie bringen wir diese bei touristischen Projekten ein?

Wird das Modell Andermatt Schule machen?

Nein, das denke ich nicht. Anstatt neue Resorts zu erstellen, sollten wir innovative Konzepte finden, wie wir die vielen leer stehenden Zweitwohnungen beleben können. Adelboden etwa unterstützt Zweitwohnungsbesitzer darin, ihre Wohnungen zu modernisieren, um diese besser vermieten zu können. Das halte ich für viel zukunftsträchtiger und spannender, als einfach neue Resorts aus dem Boden zu stampfen. Eine wichtige Frage wäre auch, wie Hoteliers noch besser kooperieren könnten, um ihre Infrastruktur und ihr Know-how besser und effizienter einzusetzen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Tourismus?

Hansruedi Müller von der Uni Bern hat in den 90er-Jahren die Begriffe Tourismusverständnis und Tourismusbewusstsein geprägt. Tourismusbewusstsein bedeutet, dass sich Touristiker, Behörden und die Bevölkerung ernsthaft mit den Vor- und Nachteilen des Tourismus auseinandersetzen und gemeinsam lokal passende Lösungen suchen. Während Tourismusverständnis meint, dass man den Tourismus zwar kritisieren darf, ihm aber letztlich Verständnis entgegenbringen muss, weil er ökonomischen Wohlstand generiert. Für eine gesunde Tourismusentwicklung brauchte es eine gezielte Förderung des Tourismusbewusstseins.

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