Noch stehen die kupfernen Brennkessel der ältesten gewerblichen Brennerei der Schweiz still. Die Früchte gären nebenan im Maischekeller in 25 000 Liter grossen Maischetanks. Es ist Ende Oktober, und vor den Fenstern taucht der Nebel ganz Oberarth (SZ) in dichtes Grau, aus dem ein feiner Nieselregen fällt.

Das Wetter, es spielt nicht nur heute nicht mit: Ausgerechnet zum 175-Jahr-Jubiläum der Brennerei S. Fassbind fiel die Ernte schlecht aus. Schuld daran sind Hagel und Frost. «Kirschen gab es dieses Jahr kaum», sagt Renato Wydler, der die Brennerei gemeinsam mit Daniela Bruggmann vor sieben Jahren übernommen hat. Dabei gehört der Kirsch zur Identität der Brennereien in der Region. Er ist bei Fassbind hinter dem Williams der zweitbeliebteste Fruchtbrand und darf als AOP in die Flasche – vorausgesetzt, die Früchte kommen aus der Region.

Zu Besuch im Experimentierlabor
Ausgerechnet Kirsch? Das ist doch dieser Schnaps, den man über die Schwarzwäldertorte träufelt oder ins Fondue rührt. Wydler und Bruggmann lachen ob der Provokation. Dafür reiche ihr Tradition-Kirsch, erklären sie. Es gehe aber auch anders, sagen sie und führen uns in den Keller. Dort, hinter den grossen Eichenfässern, in denen die Vieille-Destillate reifen, ist das Experimentierlabor der beiden. Hier lagern Spezialitäten wie Prune im Whisky-Fass, Williams im Fass aus Birnenholz, Kirsch im Port-Fass und zahlreiche weitere Raritäten.

Die Leute trinken zwar seltener als früher (siehe Grafik unten), dafür legen sie mehr Wert auf Qualität. Dass Brände heute als etwas Edles gälten, sei vor allem dem Whisky geschuldet, sagt Wydler. Dem schottischen Malzschnaps habe man viel zu verdanken: Ab den späten 80ern habe der Getränkekonzern Diageo viel Geld in die Vermarktung von Single Malts wie Oban, Lagavulin und Talisker investiert. «Das war geniales Marketing, von dem alle profitierten: Auf einmal konnte sich jede Destillerie von der anderen abheben, sich als rauchig, malzig, torfig, holzig, würzig positionieren.» Hinter jeder Brennerei stand eine Geschichte, und die Leute konnten sie in Schottland erleben.

Davon hat man in der Schweiz nicht nur profitiert, sondern auch etwas gelernt. Zum Beispiel, dass sich bei einem Brennereibesuch Emotionen vermitteln lassen: «Wer einmal bei uns in Oberarth war, die Kupferkessel gesehen, das Knacken der alten Holzdielen gehört und den Schnaps gerochen hat, ist emotional mit uns verbunden», so Bruggmann. 5000 Besucherinnen und Besucher habe man vor der Pandemie jedes Jahr durch die historischen Gebäude geführt.

«Wenn ein Mitbewerber Kurse für Barkeeper anbietet und ihnen zeigt, wie man mit Fruchtbränden Cocktails mischt, profitieren wir alle davon.»

Renato Wydler, Mitinhaber und Co-Geschäftsführer der Brennerei S. Fassbind

Das Whisky-Beispiel zeigt auch, dass man gemeinsam stärker ist. Etwa indem man auf Qualität achtet. Unlängst hat eine Schweizer Destillerie den Alkoholgehalt in einigen Produkten von 37,5 auf 40 Volumenprozent erhöht, was mehr Destillat und weniger Wasser in der Flasche – und damit mehr Qualität – bedeutet. «Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind», findet Wydler und ergänzt: «Wenn ein Mitbewerber Kurse für Barkeeper anbietet und ihnen zeigt, wie man mit Fruchtbränden Cocktails mischt, profitieren wir alle davon.»

Auch in Oberarth finden immer wieder solche Anlässe statt. Weil Bruggmann und Wydler schon vor der Übernahme von Fassbind über ihre Firma Best Taste Trading bereits jahrzehntelang Spirituosen importiert und vertrieben haben, verfügen sie in der Barszene über ein gutes Beziehungsnetz. Mixology nennen sie den Trend, der in Städten wie London und Berlin begann und vor ein paar Jahren auch in die Schweiz übergeschwappt ist. Dabei werden nicht nur Cocktails gemixt, sondern neue Drinks und Techniken entwickelt – beispielsweise eben mit Fruchtbränden.

Von der Pandemie profitiert
Bars sind denn auch die wichtigsten Abnehmer innerhalb der Gastronomie, die insgesamt rund die Hälfte des Umsatzes von Fassbind ausmacht. Oder besser gesagt: ausgemacht hat. Denn mit der Pandemie hat sich der Absatz verschoben: Den Nachfragerückgang aus dem Gastgewerbe habe das Plus durch private Kundinnen und Kunden mehr als kompensiert, sagt Wydler.

Schwierig sei das Geschäft mit Restaurants und Hotels. «Ob ein Gast nach dem Essen noch einen Digestif bestellt, hängt stark vom Personal ab. Und der Service kümmert sich in der Regel zuerst um den Wein, dann um den Wein, dann um den Wein, dann eventuell noch um den Champagner und ganz zum Schluss um die Spirituosen», meint Wydler, der vor allem bei der Ausbildung Nachholbedarf sieht.

«Wer nur den immer gleichen 08/15-Grappa im Angebot hat, wird es schwerer haben, etwas zu verkaufen.»

Daniela Bruggmann, Mitinhaberin und Co-Geschäftsführerin der Brennerei S. Fassbind

Bruggmann ist derweil überzeugt, dass sowohl für die Brennereien als auch die Gastronomie noch grosses Potenzial vorhanden ist. Regionales und Produkte, zu denen man eine besondere Geschichte erzählen könne, seien derzeit gefragt. Beides treffe auf viele Fruchtbrände zu. «Wer aber nur den immer gleichen 08/15-Grappa im Angebot hat, wird es schwerer haben, etwas zu verkaufen.» Zumal die Gäste immer besser Bescheid wüssten und wie beim Wein oft nach etwas Besonderem suchten.

Neue Produkte in der Entwicklung
Im Gesamtmarkt der Spirituosen sind Fruchtbrände eine Randerscheinung, wie die beiden Fachleute einräumen. Bei den Profis gälten sie zwar als edelstes Destillat, weil sie aus viel hochwertigeren Rohstoffen hergestellt werden als beispielsweise Whisky oder Gin. Nur bei den Kunden sei das noch nicht angekommen.

Für nächstes Jahr haben die Fassbind-Besitzer zwei Produkte in Planung, mit denen sie neue Konsumentinnen und Konsumenten für die Welt der Fruchtbrände gewinnen möchten: eine separate Cocktail-Linie und eine Linie mit süsslichen Spirituosen.


«Spirituosen spielen eine oft unterschätzte Rolle an der Bar.»

Nachgefragt mit Daniel Boubakri, Chef de Bar Hotel Storchen in Zürich[IMG 12]

Das Hotel Storchen hat beim Umbau der Bar mehr Platz eingeräumt. Weshalb?
Die Bar wurde vergrössert, damit sie offener ist und auch lokale Gäste anzieht. Bei zu beengten Platzverhältnissen müssten wir stark selektionieren, um einerseits den Hausgästen einen Platz anbieten und andererseits ein Treffpunkt in Zürich sein zu können.

Welche Rolle spielen Spirituosen an der Bar?
Spirituosen spielen eine wichtige – oft unterschätzte – Rolle. Sie sind nicht nur das wichtigste Werkzeug der Barkeeper, sondern oft auch der Einstieg für Gästegespräche und Umsatzsteigerung.

Wo sehen Sie für das Hotel die Vor-, wo die Nachteile einer gut bestückten Spirituosen-/Drinks-Karte?
Da der Gast heutzutage alle gängigen Spirituosen im Supermarkt kaufen kann, muss man als Bar etwas Spezielles bieten, will man eine gute Kundenbindung erreichen. Zudem heben wir uns von anderen Bars ab, indem unsere Cocktail-Karte fast nur aus Eigenkreationen besteht. Die Nachteile sind, dass wir laufend das Personal schulen müssen, und vor allem das gebundene Kapital.

Wie experimentierfreudig sind Ihre Gäste?
Um die 70 Prozent der Gäste sind auf der Suche nach Neuem. Daher müssen wir dem Gast etwas bieten, das er nicht zu Hause nachmachen kann. Dazu gehören auch Spirituosen, die nicht überall erhältlich sind.

MIscha Stünzi