Die Schlagzeilen waren dramatisch: «Die Walliser Winzer haben 2021 so wenig Trauben eingekellert wie noch nie», «2021 ist die kleinste Berner Weinernte seit Jahrzehnten» oder «Aargauer Winzer rechnen mit Ausfällen bis zu 75 Prozent». Schuld daran waren Frost, Hagel und ein regnerischer Sommer – Wetter, wie es der Mehltau, ein erbitterter Feind der Rebe, liebt. Der Pilz sorgt im schlimmsten Fall dafür, dass die Ernte komplett ausfällt.

Doch es gibt Reben, die dem Fiesling einigermassen gewachsen sind. In der Fachsprache ist von pilzwiderstandsfähigen Rebsorten – kurz Piwi-Sorten – die Rede. Winzerinnen und Winzer, die auf Piwi-Sorten setzen, berichten, sie hätten selbst im Krisenjahr 2021 höchstens ein- bis zweimal gegen Mehltau ins Feld ziehen müssen. Davon konnten Produzenten mit herkömmlichen Reben nur träumen.

Nachhaltig, ertragreich und doch nur ein Nischenprodukt
Weniger Gift, weniger Aufwand, mehr Ertrag trotz Wetterkapriolen und dazu der Wunsch vieler Konsumentinnen und Konsumenten nach nachhaltigen Produkten – vieles spricht für einen Piwi-Boom.

Tatsächlich werden immer mehr Piwi-Reben angebaut. 1994 machten sie laut Bundesamt für Landwirtschaft nur 47 Hektaren aus, 2020 waren es bereits 370 Hektaren. Derzeit kämen die Rebschulen mit der Produktion kaum nach, heisst es beim Verein Piwi Schweiz. Trotzdem haben die «Weine der Zukunft» in der Gastronomie nach wie vor Seltenheitswert. Warum?

■ Geringe Menge

Für den Thurgauer Winzer und Piwi-Vorreiter Roland Lenz hängt das unter anderem damit zusammen, dass in der Schweiz nur geringe Mengen Piwi-Weine gekeltert werden. Das Wachstum der Anbaufläche mag beachtlich sein, doch ihr Anteil an der gesamten Rebbaufläche ist bescheiden: In der Schweiz werden 14 696 Hektaren für Rebbau bewirtschaftet. Ein beachtlicher Teil der 370 Hektaren Piwi-Reben seien zudem Jungreben und für die Forschung bestimmt, erklärt Lenz. «Viele Winzer bieten Piwi eher als Spezialität an. Diese Weine setzen sie über private Kanäle ab», so der Präsident des Vereins Piwi Schweiz.

■ Fehlendes Wissen

Pinot noir, Cabernet Sauvignon und Merlot kennen wir alle. Und auch wer nicht gerade einen Master-of-Wine-Titel besitzt, hat eine ungefähre Vorstellung, wie diese Weine schmecken könnten. Aber wie, bitte schön, schmecken Divico, Regent oder Satin noir? «Ich bin immer wieder überrascht, wie vielen Konsumenten der Mut fehlt, Neues auszuprobieren», sagt Lenz.

«Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr der Mut fehlt, Neues auszuprobieren.»

Roland Lenz
Präsident des Vereins Piwi Schweiz

«Was der Markt nicht kennt, wird nicht bestellt», weiss auch Marc Almert, Sommelier-Weltmeister 2019 und Sommelier im «Baur au Lac» in Zürich. Aber nicht nur den Konsumentinnen und Konsumenten fehlt Piwi-Know-how. Er habe letzte Woche mit einer Sommelière in Ausbildung gesprochen, die noch nie von Piwi gehört habe, erzählt Lenz.

■ Schwierige Sortennamen

Neben reinen Fantasienamen wie Felicia, Saphira und Reberger setzen Züchter wie Valentin Blattner teils auch auf Namen, die an bekannte Traubensorten erinnern, wie etwa Cabernet Jura oder Sauvignac.

Nicht selten sind Piwi-Sortennamen aber der Albtraum jedes Vermarkters – etwa bei Blattners Neuzüchtung VB Cal 1-28. Lenz, der selber einen Cal-1-28-Rotwein keltert, sieht grosses Potenzial in der Sorte. Wenn sie nur endlich einen vernünftigen Namen hätte.

■ Schlechter Ruf

Piwi-Weine galten lange als – gelinde gesagt – gewöhnungsbedürftig. Das Kreuzen mit resistenten Amerikaner-Sorten brachte oft «Chatzeseicherli»-Aromen hervor (auch Foxton genannt). Und die Rotweine hatten das gefürchtete Piwi-Loch, ein abrupt endendes Geschmackserlebnis. «Die ersten Piwi-Weine waren wirklich keine Freude», meint auch Lenz.

Doch Züchter und Winzerinnen haben Fortschritte gemacht. Neue Sorten haben die «Chatzeseicherli»-Aromen verloren. Und im Keller werden Kniffe angewandt, um das Piwi-Loch zu stopfen. So werden etwa die Beeren angetrocknet und die Weine im Barrique ausgebaut. Zudem haben viele Rebstöcke mittlerweile ein gewisses Alter, was zu vielschichtigeren Weinen führt. Doch selbst Piwi-Winzerinnen und -Winzer räumen ein, dass es «work in progress» sei.

Perfekt als Gesprächsthema am Tisch
Und was bringt die Zukunft? Die Pandemie habe das Bewusstsein der Gäste für Nachhaltigkeit gestärkt, findet Almert. Davon könnten Piwi-Weine profitieren. Er schreibt ihnen auch sensorisch grosses Potenzial zu. Lenz ist überzeugt, dass die Weine an einem «Kipppunkt» und vor einer grossen Zukunft stehen. Die Weine hätten gerade in der Gastronomie Potenzial, weil sich damit viele Geschichten erzählen liessen und sie ein prima Gesprächsthema seien. Das bestätigt Almert: «Nachhaltigkeit und Neuigkeit der Weine sind interessante Türöffner, um mit den Gästen ins Gespräch zu kommen.»[RELATED]

Die Situation sei heute eine andere als vor 10, 20 Jahren, findet Martin Hrach, stellvertretender Restaurantleiter im Schloss Wartegg. Piwi-Weine gehören in seinem Lokal, das auf Bio und Nachhaltigkeit fokussiert, zum Konzept. «Früher hiess es oft: ‹Bio-Weine, kann man die überhaupt trinken?›» Das komme heute nicht mehr vor. Es brauche noch etwas Zeit, meint Hrach, aber das veränderte Bewusstsein der Gäste spreche eindeutig für eine rosige Zukunft.


Einige wichtige Piwi-Sorten vorgestellt:

Johanniter

[IMG 2]Die 1968 in Freiburg im Breisgau gezüchtete Sorte ist eine Kreuzung aus Riesling, Seyve Villard, Ruländer (Pinot gris) und Gutedel (Chasselas). Die kräftigen Weine ähneln Riesling und Pinot gris. Ein interessanter Vertreter ist Hofräbe Johanniter 2020 von Bruno Martin, ein fruchtig-frischer Wein vom Bielersee mit Schmelz und Restsüsse.


Solaris

Solaris ist eine 1975 von Norbert Becker gezüchtete Kreuzung aus Merzling und der mit Muskat-Ottonel verwandten Sorte Gm 6493. Die Weine sind eher neutral und werden teils im Barrique ausgebaut – wie der Solaris Barrique 2020 des Luzerner Weinguts Sitenrain, der mit Aromen von reifen Früchten und Anflügen von Vanille erfreut.[IMG 3]


Cabernet blanc

[IMG 4]Cabernet blanc ist eine von Valentin Blattner gezüchtete und in Deutschland weiterentwickelte Kreuzung aus Cabernet Sauvignon und mehreren resistenten Rebsorten. Die Weine erinnern oft an Sauvignon blanc und Riesling. Der 2018 Cabernet blanc von Roland und Karin Lenz erfreut mit knackiger Frucht.


Divico

Divico ist eine junge Schweizer Züchtung von Agroscope in Pully und eine Kreuzung aus Gamaret und Bronner. Die Weine sind farbintensiv und würzig und erinnern an Gamaret. Der 2018 Divico des Walliser Weinguts Diroso hat eine schöne Struktur mit einem fein-fruchtigen Auftakt und würzigem Abgang.[IMG 5]


Cabernet Jura

[IMG 6]Gezüchtet von Valentin Blattner, ist Cabernet Jura eine Kreuzung zwischen Cabernet Sauvignon und resistenten Reben. Die Weine sind dunkel und mittelschwer mit Aromen von dunklen Waldbeeren. Der 2017 Cabernet Jura Barrique von Silvia Blattners Weingut Les Mergats bietet würzige Cassis- und Brombeeraromen.


VB Cal 1-28

Die junge Züchtung von Valentin Blattner gilt als grosse Hoffnung. Sie ergibt würzig-fruchtige Weine von geschmeidiger Intensität. Der elegante 2018 Calif 28 der basel-landschaftlichen Domaine Chiquet überzeugt nach 24 Monaten im Barrique mit Aromen von dunklen Waldbeeren und einem langen Abgang.[IMG 7]

Mischa Stünzi