Es ist kurz vor 19 Uhr, und wir quetschen uns auf die schmale Bank einer rostigen Fahrrad-Rikscha. Der drahtige Fahrer pflügt sich tapfer durch die Blechlawine des verstopften Delhi – Chennai Highway. Die achtspurige Strasse führt mitten durch die Wohnquartiere der indischen Hauptstadt und wird von Bussen, Autos, Fussgängern, Motor- und Fahrrad-Rikschas sowie Kühen und Hunden gleichermassen beansprucht. Der herrschende Lärm lässt etwaige Versuche einer Unterhaltung im Keim ersticken. Das ohrenbetäubende Geräusch Abertausender schriller Hupen ist allgegenwärtig. In einem wütenden Kanon tobt der Kampf um wenige Millimeter Strasse. Gas, Bremse, Hupe heisst der Standardablauf.

Der Markt für Lärmschutzfenster ist 15 Mia. US-Dollar gross.

Die Probleme des indischen Subkontinents sind vielschichtig. Über 1,4 Milliar-den Menschen treffen auf eine heillos überforderte Infrastruktur. Dichte Smog-Glocken, tödliche Atemwegserkrankungen, gravierende Umweltprobleme sowie verheerende Unwetter generieren internationale Bestürzung. Lärm als Thema ist jedoch zu wenig attraktiv, als dass er für Schlagzeilen ausserhalb des Landes herhalten könnte. Dabei ist der schrille Krachmacher längst ein weiterer Dorn im Auge der Volksgesundheit. Jüngste Untersuchungen ergeben, dass 80 Prozent von Indiens Verkehrspolizisten unter schweren Gehörschäden leiden. Findige Unternehmer haben das Potenzial des Problems erkannt. Der Markt für Lärmschutzfenster ist bereits 15 Milliarden US-Dollar gross. Leisten kann sich diese nur ein Bruchteil der Bevölkerung.

Highlight
Auch wenn die Stadt abweisend wirkt, die Menschen darin sind hilfsbereit und sehr interessiert.

Missing
Neben dem Lärm ist die Luftqualität ein echtes Problem. Abendliche Hustenanfälle sind nicht zu vermeiden.

Aufgefallen
Die Metro in Delhi hilft, dem Verkehrschaos zu entfliehen. Und es gibt sogar extra Wagen nur für Frauen.

Wir kennen Metropolen wie New York, Bangkok, Nairobi, Buenos Aires oder Rom aus eigener Erfahrung. Wirft man all diese Geräuschkulissen in einen Topf, ergibt sich ein Bruchteil des Lärmpegels, den die über zwölf Millionen motorisierten Gefährte Delhis verursachen. Springt eine Ampel auf Grün, bricht die akustische Hölle aus. Befeuert wird das Konzert auch aus Europa. So statten Audi und VW Wagen für den indischen Markt mit extralauten Hupen aus. Ohne Rücksicht auf das Gehör Zighunderter Millionen Menschen, die ihr Leben auf und neben Indiens Strassen bestreiten.

Die indische Regierung hat die Probleme erkannt. Massnahmen bleiben aber zaghaft. So wurden etwa Versuche gestartet, Ampeln mit Dezibelmetern auszurüsten. Grün gibt es erst, wenn der Lärm auf ein entsprechendes Niveau abflacht. Aus Angst vor einem totalen Verkehrskollaps bleiben einschneidendere Massnahmen bislang auf der Strecke.

Ich habe mich immer gefragt, wieso die genialen Marketer von Schweiz Tourismus Slogans wie «I need quiet. I need Switzerland.» produzieren. Hat unser Land nicht mehr zu bieten als berglerische Stille? Nach drei Tagen Tinnitus auf Delhis Strassen weiss ich: Ruhe hat einen hohen Wert. Nutzen wir diesen geschickt, stellt er einen unschätzbaren Wettbewerbsvorteil dar. Bloss: Diejenigen, die sich die Ruheoase Schweiz leisten können, gehören zu den Mitverursachern des Problems. Eine Doppelmoral, mit welcher der Tourismus sowie der Tourist leben müssen. Denn auch wir freuen uns auf Tage in einem südindischen Yoga-Retreat fernab der Dezibel-Schallmauer. Im Wissen, dass sich die meisten Menschen auf Delhis Strassen keinen Rückzug leisten können.

Gemeinsam mit seiner Partnerin Lena-Maria Weber reist Patric Schönberg mit dem Rucksack ein Jahr um die Welt. Der ehemalige Leiter Kommunikation von HotellerieSuisse berichtet aus seiner persönlichen Perspektive über Dinge, die auffallend anders sind als bei uns. Die gesamte Reise auf Instagram: @losnescos [IMG 2]