In dem am Freitag  veröffentlichten Bericht zieht das SECO Bilanz über die Erfahrungen aus den ersten zehn Jahren Personenfreizügigkeit.

Unbestritten ist, dass der freie Personenverkehr zu deutlich mehr Zuwanderung führte. In den elf Jahren vor Inkrafttreten des freien Personenverkehrs lag die Netto-Zuwanderung durchschnittlich bei 26'400 Personen. In den ersten zehn Jahren des Abkommens wanderten allein aus den EU- und EFTA-Ländern im Schnitt 36'700 Personen mehr ein als aus. Dazu kamen im Schnitt jährlich 25'600 Personen von ausserhalb der EU oder der EFTA.

Zuwanderung 2011 wieder angestiegen
Die Statistiken zeigen auch, dass die Zuwanderung aus dem EU-/EFTA-Raum stark von der Nachfrage nach Arbeitskräften und damit von der Konjunktur abhängt. 2008 erreichte die Netto-Zuwanderung mit einem Plus von über 90'000 Menschen (davon 60'000 aus EU/EFTA-Ländern) den Höhepunkt. Mit der Finanzkrise verringerte sich die Zuwanderung auf 67'000 Personen, bevor sie letztes Jahr wieder auf 78'500 anstieg.

Umstritten ist, welche wirtschaftlichen Folgen diese Zuwanderungsraten haben. Letzten Herbst schlug die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK) Alarm, weil nach ihren Erkenntnissen die Löhne in der Schweiz seit Beginn des freien Personenverkehrs unter Druck geraten sind.

Für Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch ist klar, dass sich der freie Personenverkehr positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz ausgewirkt hat. Anzeichen für eine Verdrängung der ansässigen Erwerbsbevölkerung gebe es kaum, sagte die SECO-Chefin vor den Medien.

"Keine Erosion tiefer Löhne"
Laut SECO hat eine Erosion tiefer Löhne nicht stattgefunden. Die Lohnstruktur sei "erstaunlich stabil" geblieben. Die Entwicklung der Lohnverteilung zwischen 2002 und 2010 lege nahe, dass seit Inkrafttreten des Abkommens "kein besonders starker Druck auf tiefe Löhne ausgeübt werden konnte". Grund dafür seien die flankierenden Massnahmen und die Gesamtarbeitsverträge (GAV).

Das SECO sieht nur in der Industrie und im Baugewerbe Anzeichen dafür, dass die Einstiegslöhne unter Druck gekommen sein könnten. Genaueres zu Lohndruck und der möglichen Verdrängung gewisser Personengruppen aus dem Arbeitsmarkt verspricht sich das SECO von zwei laufenden Studien.

Ausländer aus Drittstaaten als Velierer
Hinweise auf Verdrängungseffekte gibt es bei den in der Schweiz niedergelassenen Ausländern, die nicht aus einem EU-/EFTA-Land stammen. Ihre Erwerbstätigenquote sank um 0,8 Prozent. Dagegen stieg jene der Schweizerinnen und Schweizer um 2,1 Prozent auf 84,8 Prozent an. Die zugewanderten Arbeitskräfte aus der EU sind nach Ansicht des SECO mehrheitlich eine gute Ergänzung zu den ansässigen Arbeitskräften. Ausserdem betont das SECO einmal mehr die positiven Auswirkungen der Zuwanderung auf AHV, IV und EO.

Thomas Daum, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, zeigte sich mit der Analyse des SECO weitgehend einverstanden. Der Bericht widerlege nicht nur die Meinung jener, die die Personenfreizügigkeit grundsätzlich ablehnten. Sie zeige auch, dass die "laute Kritik" an der Wirksamkeit der flankierenden Massnahmen nicht gerechtfertigt sei.

Arbeitgeber und Gewerkschaften uneinig zu Solidarhaftung
Forderungen, diese über die vom Bundesrat gemachten Vorschläge hinaus zu verschärfen, wies Daum entschieden zurück. Er wandte sich dabei insbesondere gegen die Solidarhaftung der Erstunternehmer für ihre Subunternehmer, welche arbeitsrechtliche Bestimmungen nicht einhalten.

Für diese Massnahme stark machte sich dagegen Daniel Lampart, Chefökonom des schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Die Umsetzung der flankierenden Massnahmen sei nach wie vor ein Problem. Die Verstossquoten hätten sich sei 2009 nahezu auf 11 Prozent verdoppelt. Die Zahl der Verstösse werde zudem unterschätzt.

Gefahr drohe insbesondere von Subunternehmen aus den neuen osteuropäischen EU-Ländern. Deshalb brauche es die Solidarhaftung. Sonst könne das Versprechen nicht eingehalten werden, dass in der Schweiz auch mit der Personenfreizügigkeit Schweizer Löhne bezahlt werden, sagte Lampart, der dem SECO in diesem Zusammenhang Untätigkeit vorwarf.

Bereits nächste Woche wird das Parlament diese Diskussion aufnehmen. Zur Debatte stehen insbesondere Massnahmen gegenüber ausländischen Anbietern, die als Scheinselbständige GAV-Regeln umgehen. Der Nationalrat behandelt auch eine Motion, die eine Solidarhaftung fordert. Der Ständerat möchte diese Frage in einer separaten Vorlage klären.