Mehr als 70 Ratsmitglieder hatten sich zum Thema äussern wollen. Zwar kamen sie alle zu Wort. Noch ausstehend ist jedoch das Votum von Bundesrat Johann Schneider-Ammann sowie jenes der Kommissionssprecher. Eine Nachmittagssitzung war nicht vorgesehen. Nationalratspräsident Ruedi Lustenberger (CVP/LU) brach deshalb die Debatte gegen 13 Uhr ab.

Ob der Nationalrat nächste oder übernächste Woche entscheidet, ist offen. Fest steht jedoch bereits jetzt, dass er die Initiative ablehnen wird. Die bürgerlichen Parteien stellen sich geschlossen gegen das Volksbegehren, nur SP und Grüne werben für ein Ja.

Mit der Initiative «Für den Schutz fairer Löhne» verlangt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn. Dieser soll bei 22 Franken pro Stunde liegen, was rund 4000 Franken im Monat entspricht.

Löhne müssen zum Leben reichen
Wer Vollzeit arbeite, sollte von seinem Lohn leben können, argumentierten die Befürworter der Initiative. Heute verdienten über 300'000 Personen weniger als4000 Franken. Betroffen seien vor allem Frauen, zum Beispiel Kleiderverkäuferinnen. Tiefer Lohn heisse auch tiefe Rente, viele seien auf Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen angewiesen.

«Wo die Löhne nicht zum Leben reichen, springt der Staat ein», sagte Jacqueline Fehr (SP/ZH). Die Tieflohnbranche werde also staatlich subventioniert. Das sei alles andere als liberal. Ein Wirtschaftssystem mit Löhnen, die nicht zum Leben reichten, könne kein Erfolgsmodell sein. Der soziale Ausgleich sei das Erfolgsmodell der Schweiz, ergänzte Susanne Leutenegger Oberholzer (SP/BL). Und dazu gehörten faire Löhne. Die reiche Schweiz könne und müsse sich solche leisten.

Besser wenig Lohn als keine Arbeit
Die Gegner warfen der Linken vor, den Klassenkampf zu schüren. Eine Arbeit mit niedrigem Lohn sei besser als gar keine Arbeit, machten sie geltend. Ein Ja zur Initiative würde der Wirtschaft schaden. In den Tieflohnbranchen würden Stellen abgebaut, die Schwarzarbeit würde zunehmen, und die Berufslehre würde unattraktiver.

Viele brachten prinzipielle Gründe vor und knüpften dabei an die Slogans gegen die 1:12-Initiative an. Es brauche weder bei hohen noch bei tiefen Löhnen ein staatliches Lohndiktat, lautete der Tenor. «1:12 war der erste Streich, mit der Mindestlohn-Initiative folgt der zweite sogleich», dichtete Christian Wasserfallen (FDP/BE). Beide Ideen seien untauglich.

Angst vor Sogwirkung
Für Gesprächsstoff sorgte der in Deutschland beschlossene Mindestlohn von 8,50 Euro. Würde die Schweiz einen «fürstlichen Mindestlohn» von 22 Franken einführen, hätte dies eine Sogwirkung, warnte Ruth Humbel (CVP/AG). Maximilian Reimann (SVP/AG) befürchtet, dass vor allem die Zahl der Grenzgänger zunehmen würde.

Die Initianten geben zu bedenken, dass der deutsche Mindestlohn zwar niedriger sei, das Lohngefüge aber stärker verändere. In Deutschland müssten bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde nämlich rund 16 Prozent der Löhne angehoben werden. In der Schweiz dagegen müssten bei einem Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde nur 9 Prozent der Löhne aufgestockt werden.

Chancen vor dem Volk
SP und Grüne wiesen auch darauf hin, dass die Lebenshaltungskosten in der Schweiz höher seien als in Deutschland. Der Mindestlohn sei eine flankierende Massnahme zur Personenfreizügigkeit, sagte Regula Rytz (Grüne/BE). Ohne rote Linie verliere der offene Arbeitsmarkt die Unterstützung.

Die Fronten im Rat waren klar. Von allen Lohn-Initiativen sei diese die Wichtigste, befand Daniel Vischer (Grüne/ZH). Mathias Reynard (SP/VS) stellte fest, es gehe um nichts Geringeres als den Wert der Arbeit und die Würde der Arbeitnehmenden. Die Bürgerlichen sprachen dagegen von «Umverteilungsphantasien». Die Linke wolle «Sozialismus total», sagte Peter Keller (SVP/NW). Als einziger Redner scherte der Berner Nationalrat Alec von Graffenried aus, der sich als Grüner auf die Seite der Gegner schlug.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger können sich frühestens im Mai äussern. Anders als im Parlament scheint ein Ja an der Urne nicht ausgeschlossen: Gemäss ersten Umfragen stösst die Initiative auf Sympathie. (av/sda)