Sigrid «Sigi» Schönthal ist konsequent: Eben hat sie ihre Stelle als Lehrerin in Grindelwald gekündigt, um wieder mehr als selbstständige Bergführerin tätig zu sein. Ihr Herz schlägt für die Berge. Wenn Schönthal über diese Welt zwischen Fels, Eis und Himmel erzählt, strahlen ihre Augen. Und dann sagt sie einen Satz, der aufhorchen lässt: «Die Berge geben mir eine gewisse Leichtigkeit und Lockerheit.» Ausgerechnet die Berge? Dieses Gelände, wo ein falscher Schritt zwischen Leben und Tod entscheiden kann, wo Fokus und Konzentration gefragt sind wie kaum wo sonst? Klar, die Anspannung und der Fokus seien beim Führen enorm, sagt Schönthal.

«Die Berge zeigen uns unsere Bedeutungslosigkeit. Sie werden noch da sein, wenn wir alle längst nicht mehr existieren. Das relativiert die eigenen Probleme.»

Sigrid Schönthal
Bergführerin

Trotzdem sei es ein unbeschreibliches Freiheitsgefühl, wenn der Blick vom Gipfel in die schier unendliche Weite gehe. Und: «Die Berge zeigen uns unsere Bedeutungslosigkeit. Sie sind so gross, wir so klein. Und sie werden auch noch da sein, wenn wir alle längst nicht mehr existieren.» Das relativiere auch die eigenen Probleme.

Steckbrief:
Name: Sigrid «Sigi» Schönthal
Alter: 39
Beruf: Bergführerin und Lehrerin (80/20 im Herzen, 40/40 gemessen am Pensum)
Was ich mag: Humor, strahlende Kinderaugen und wenn es einem gelingt, nicht alles so ernst zu nehmen
Was ich nicht mag: Egoismus – egal, ob am Berg oder sonst wo
Was ich werden wollte: Bergführerin
Was ich verpasst habe: Nichts, ausser gestern früh ins Bett zu gehen
Darüber muss ich lachen: Über solche Fragen und Geschichten von früher
Auf diese Eigenschaft könnte ich verzichten: Ungeduld mit mir selber
Im nächsten Leben werde ich: ... erneut glücklich sein

Vom Schwarzwald ins Berner Oberland
Aufgewachsen am Rande des Schwarzwalds – jenem deutschen Gebirge, dessen höchster Gipfel, der Feldberg, auf knapp 1500 m ü. M. liegt –, wusste die heute 39-Jährige schon früh, dass sie einmal Bergführerin werden möchte. «Meine bergbegeisterten Eltern haben mich immer in die Berge mitgenommen», sagt Schönthal in breitem Walliser Dialekt. Zudem seien Bergsteiger aus dem Schwarzwald keine Seltenheit, betont sie, wohl nachdem sie den leicht skeptischen Unterton des Schweizer Fragestellers vernommen hat.

Nach ihrem Studium am Lehramt – «das ich nur durchgestanden habe, weil ich damals schon wusste, dass ich später einmal Bergführerin werde» – ist Schönthal ihrem Traum gefolgt und ins Wallis ausgewandert, wo sie neben verschiedenen Jobs 2015 ihre Bergführerausbildung abschloss.

In den Kursen war sie oft die einzige Frau – oder eine von zwei Frauen bei 20, 25 Teilnehmern. Da müsse man mit dummen Sprüchen rechnen, die aber nie gegen sie gerichtet gewesen seien. Es ist normal, dass auf Touren die ganze Truppe im gleichen Massenschlag übernachtet. «Wenn du damit nicht umgehen kannst, wird es schwierig», sagt Schönthal, die heute mit ihrer Familie in der Nähe von Interlaken lebt. Besonders geschont sei sie als Frau nie geworden, so die Alpinistin. «Es ist wichtig, dass die Frauen die genau gleichen Leistungstests absolvieren wie die Männer. Denn dem Berg ist es egal, ob du ein Mann oder eine Frau bist.»

Viel wichtiger als Kraft ist Durchhaltewille
Haben Männer am Berg Vorteile gegenüber Frauen? «Im Schnitt sind sie kräftiger. Um einen Tritt ins Eis zu schlagen, haute in der Ausbildung ein Kollege neben mir mit einem Pickelschlag gleich viel Eis weg wie ich mit drei Schlägen.» Am Ende seien aber Durchhaltewille und Konzentrationsfähigkeit viel wichtiger als Kraft.

[IMG 3]Für Schönthal macht es keinen Unterschied, ob sie Frauen oder Männer am Seil hat. «Ich führe immer gleich. Obwohl: Es gibt schon einzelne Kunden – vorwiegend Männer – bei denen ich klar sagen muss: ‹Du machst jetzt genau das!›, weil sie sonst womöglich die Grenzen austesten», sagt sie und wählt dabei ihre Worte wie immer so bewusst, als seien es Tritte auf einem exponierten Grat. Dieses Testen der Grenzen kennt Schönthal auch von jüngeren Berufskollegen, wenn sie privat unterwegs sind. «Ich habe Kollegen in die Eigernordwand steigen sehen und dachte mir: ‹An deren Stelle, mit deren Fähigkeiten würde ich das nie machen.›»

Das Beispiel veranschaulicht womöglich, weshalb es deutlich mehr Bergführer als Bergführerinnen gibt – nur 6 Prozent der Mitglieder im Schweizer Bergführerverband sind Frauen: «Die Hemmschwelle, Bergführerin zu werden, ist bei Frauen grösser. Eine Frau muss sich zu 120 Prozent sicher sein, dass sie der Herausforderung gewachsen ist. Es hat auch bei mir eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe: Die Männer kochen auch nur mit Wasser», sagt Schönthal, die überzeugt ist, dass sich das Geschlechterverhältnis am Berg in Zukunft zugunsten der Frauen verschieben wird. Laut der Fachfrau gibt es eine junge Generation von Alpinistinnen, die mit viel Selbstbewusstsein und Präsenz bei der Sache ist – wichtige Vorbilder für künftige Bergsteigerinnen. «Aber die Männer werden in der Mehrzahl bleiben.»

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Zwischen Wickeltisch und Hochgebirge
Schönthal und ihr Mann Mano, der ebenfalls Bergführer ist, haben zwei kleine Töchter. Wie gehen sie als Eltern mit dem Restrisiko um, das im Gebirge bei aller Vorsicht bleibt? Das Bewusstsein, dass etwas passieren könne, sei da. Alles andere wäre in dem Beruf blauäugig, sagt Schönthal. «Ich musste auch schon auf die andere Seite des Grats springen, weil ein Gast gestürzt ist.» Sich nach der Geburt einen sichereren Job zu suchen, kam aber weder für sie infrage noch für ihren Mann, mit dem sie sich die Kinderbetreuung teilt.

Wie wichtig Schönthal die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist, wird deutlich, wenn sie sagt: «Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht genug Zeit mit den Kindern verbrächte. Gleichzeitig stresst es mich, wenn ich nicht so oft zum Führen komme.»

Klettert sie als Mutter anders als vorher? «Die klassische Frage», antwortet Schönthal und lacht. Aber ja, natürlich klettere sie heute anders als vor 10, 15 Jahren, als sie noch keine Kollegen gekannt habe, die tödlich verunfallt seien oder sich schwer verletzt hätten. «Aber das beobachte ich auch bei gleichaltrigen Bergführern, die keine Kinder haben. Das hat mehr mit der Erfahrung als mit dem Nachwuchs zu tun.» Auf dem Berg haben Gedanken an die Kleinen zu Hause so oder so keinen Platz. «Wenn ich auf dem Jungfraujoch aus dem Zug steige, bin ich zu 100 Prozent Bergführerin», sagt Schönthal. Dieser Fokus auf die bevorstehende Aufgabe passiere nicht bewusst, sondern ganz automatisch. «Wenn ich führe, gibt es nur mich, den Gast und den Berg.»

Die zwei Seiten der Women Peak Challenge
Bergsteigen hat oft auch mit Prestige zu tun. Von Bergen wie Matterhorn, Eiger und Dufourspitze geht eine spezielle Aura aus, und die mystifizierten 4000 Meter gelten Laien als Grenze zwischen Bergwanderung und Alpinismus. Dieser Prestigeaspekt sei bei männlichen Kunden nicht stärker ausgeprägt als bei weiblichen. «Viertausender und Prestigeberge haben nichts mit Mann und Frau zu tun. Ich habe auch Kundinnen, die mich vor einer Tour fragen: ‹Gell, wir gehen schon auf einen Viertausender?›»

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Bezeichnend: Auch bei der von Schweiz Tourismus letztes Jahr durchgeführten 100 % Women Peak Challenge standen Prestigeberge im Zentrum. Mehr als 700 Bergsteigerinnen aus über 20 Ländern haben in reinen Frauenseilschaften alle 48 Viertausender des Landes erklommen. Als «überwältigende Spitzenleistung» bezeichnete Letizia Elia, Head of Business Development bei Schweiz Tourismus, das gelungene Unterfangen in einem Communiqué.

Sie stehe dieser Aktion ambivalent gegenüber, meint Schönthal, die selber im Rahmen der Challenge Stammkundinnen auf Viertausender geführt hat. Einerseits sei es grossartig, dass Frauen für die Berge begeistert würden. Schön auch, dass das Projekt so offen und so international gewesen sei – «auch wenn es mir zu denken gibt, dass die Mehrheit der Bergführerinnen aus dem Ausland kam».[IMG 4]

Andererseits fragt sich Schönthal: «Warum muss man die Leistungen der Frauen so hervorheben? Hat man ihnen das etwa nicht zugetraut?» Es habe schon vor über hundert Jahren Bergsteigerinnen gegeben. Und die entlegenen, schwierigen Gipfel seien im Rahmen der Peak Challenge von Frauen erklettert worden, die seit Jahren auf Berge stiegen, ohne dass jemand darüber schreibe.


«Frauen sind schon immer genauso begeistert, virtuos und unerschrocken auf Berge gestiegen wie Männer. Nur wurde das lange Zeit kaum dokumentiert», heisst es im Prospekt zur aktuellen Ausstellung «Fundbüro für Erinnerungen No. 2: Frauen am Berg». Die Ausstellung im Alpinen Museum Bern läuft noch bis Oktober 2023.

Frauen im Fokus

In der Hospitality- und Touristikbranche sind Frauen in Führungspositionen noch immer untervertreten. Dennoch haben sich viele von ihnen erfolgreich durchgesetzt. Mit einer Porträtserie rückt die htr hotel revue diese Frauen ins Rampenlicht und gibt so Einblicke in vielfältige Frauenkarrieren.

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