Herr Schulthess, das Luzerner Seebecken zeigt sich heute von seiner allerschönsten Seite, im Verlauf des Tags sind über 30 Grad angesagt. Hand aufs Herz: Hätten Sie als Privatperson Lust, den heutigen Prachtstag unter den gegebenen Umständen auf einem SGV-Schiff zu verbringen?

Sagen wir es so: Ich habe Verständnis dafür, dass es für viele Leute unattraktiv geworden ist, ein Ticket zu kaufen und dann mit den Einschränkungen, die das gegenwärtige Schutzkonzept mit sich bringt, umzugehen.

Sie sprechen die Maskenpflicht an, die auf Kursschiffen auch auf den Aussendecks gilt.

Die Maskenpflicht im Freien trifft uns und unsere Kunden hart. Es ist das Fahrerlebnis, das eine Schifffahrt zu etwas Besonderem macht. Das Naturerlebnis, das Geniessen von Wind und Wetter. Das alles wird mit den Massnahmen stark eingeschränkt, ganz besonders natürlich an einem Tag, an dem die Temperaturen über 30 Grad klettern.

Stefan Schulthess führt seit 2006 die SGV-Unternehmensgruppe. Neben dem Kerngeschäft, der touristischen Schifffahrt auf dem Vierwaldstättersee, expandierte die SGV-Gruppe unter seiner Ägide erfolgreich in den Bereichen Gastronomie und Schiffsbau/Technik. 2019 erzielte die SGV-Gruppe mit einem Jahresumsatz von über 86 Millionen Franken ihr bisheriges Rekordergebnis. Stefan Schulthess ist Präsident des Verbandes Schweizerischer Schifffahrtsunternehmen (VSSU) sowie Vorstandsmitglied im Verband öffentlicher Verkehr (VÖV) und im Schweizer Tourismus-Verband (STV). Als Ausgleich treibt er Sport («früher mehr als heute»), geniesst den Garten in seinem Zuhause in Kehrsiten NW und hört gern laute Rockmusik.

Wie sehen die wirtschaftlichen Folgen aus?

Wir erreichen momentan ungefähr die Hälfte der sonst üblichen Passagierzahlen. Das gilt plus/minus für alle Schifffahrtsgesellschaften in der Schweiz. Das liegt nicht allein an der Maskenpflicht. Der städtische Tourismus liegt am Boden. Die ausländischen Gäste fehlen, und die Schweizer ziehts in die Berge. Überspitzt kann man sagen: Wir haben im Augenblick das falsche Produkt am falschen Ort.

Wie gross schätzen Sie die Chance ein, dass noch in dieser Saison die Maskenpflicht auf den Freidecks aufgehoben wird?

Als der Bundesrat die Maskentragpflicht verkündete, haben wir versucht, hinter den Kulissen beim BAG eine Ausnahmeregelung für das Aussendeck zu finden. Das klappte leider nicht. Vor zwei Wochen haben wir ein Gesuch direkt an Alain Berset gerichtet. Die Erfolgsaussichten kann ich nicht einschätzen. Übermässig optimistisch bin ich nicht.

Die steigenden Ansteckungszahlen sprechen auch nicht unbedingt für eine baldige Lockerung der Massnahmen?

Zugegeben, der Balanceakt zwischen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Abwägungen ist schwierig. Das ist ein stetiges Aushandeln. Es ist völlig klar, dass die Gesamtsituation aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden muss. Aber man kann schon feststellen, dass der Fokus immer noch sehr stark auf der Gesundheit liegt und die Bereitschaft für Lockerungen, um wirtschaftliche Schäden zu minimieren, aufseiten der Behörden relativ klein ist.

Sie haben es bereits angetönt: Eine weitere Folge der Corona-Krise ist der drastische Einbruch der ausländischen Gästezahlen. Vor allem das Wegfallen der Gäste aus dem asiatischen Raum muss die SGV hart treffen.

Es ist erstaunlich, dass in Bezug auf unsere ausländischen Gäste in der Öffentlichkeit ein falsches Bild vorherrscht. Die SGV hat 70 Prozent Schweizer Gäste. Bei den ausländischen Gästen stammt nur ungefähr ein Drittel aus dem asiatischen Raum. Für uns sind Amerikaner und Europäer genauso wichtig. Aber denen sieht man ihre Herkunft halt nicht auf den ersten Blick an. Momentan fehlen leider alle ausländischen Gäste.

In letzter Zeit mehrten sich in der Luzerner Bevölkerung Stimmen, die den auf asiatische Reisegruppen zugeschnittenen Massentourismus kritisch beurteilen. Inwiefern ist die SGV von dieser Diskussion betroffen?

Bei der SGV können wir die Gästeströme mit einer gezielten Produkt- und Preisgestaltung gut kanalisieren. Wir haben in unserem Angebot beispielsweise eine einstündige Seerundfahrt auf der Panorama-Jacht Saphir. Das ist das Schiff, auf dem wir uns zurzeit befinden und das wegen der Krise dieses Jahr nicht fährt. Dieses Angebot ist vor allem bei den asiatischen Gästen sehr beliebt. Man kann für eine Stunde kurz auf den See, ein paar Fotos machen und sich nachher wieder anderen touristischen Aktivitäten widmen. Wir erwirtschaften mit diesem Schiff 30 Prozent unseres Jahresgewinns. Die unterschiedlichen Gästebedürfnisse sind in gewisser Hinsicht unser Glück.

Kann die Krise auch eine Chance sein, die touristische Schifffahrt in der Schweiz nachhaltiger zu gestalten und den Fokus konsequent auf einheimische Passagiere zu legen?

Ich staune immer wieder über Stimmen, die meinen, der Schweizer Tourismus könne ausschliesslich mit Schweizer Gästen funktionieren. Das ist romantisches Wunschdenken. Die Schweizer Wirtschaft hat einen Exportanteil von 50 Prozent. Wie soll da der Tourismus ohne ausländische Gäste überleben? Auch wenn jetzt gewisse Destinationen Corona-bedingt punktuell mehr Schweizer Gäste haben, wird das keine nachhaltige Entwicklung sein. Sobald die Schweizer wieder bedenkenlos ins Ausland reisen können, werden sie es tun. Ganz allgemein habe ich Mühe zu verstehen, warum wir Schweizer für uns die Freiheit in Anspruch nehmen, wo immer wir wollen im Ausland Ferien zu machen, gleichzeitig aber kritisieren, wenn das ausländische Gäste in der Schweiz ebenfalls tun.

Ein weiteres Schiff, das wegen der momentanen Situation aus Kostengründen nicht fährt, ist das Dampfschiff Gallia. Gefährdet die Corona-Krise den Fortbestand der SGV-Dampfschiffflotte?

Nein. Es ist zwar schon so, dass unsere Dampfschiffe im Betrieb sehr kostenintensiv sind. Ein Dampfschiff braucht eine doppelt so grosse Mannschaft sowie 4- bis 5-mal so viel Treibstoff wie ein gleich grosses Motorschiff. Aus Klimaschutzgesichtspunkten dürften eigentlich keine Dampfschiffe mehr fahren. Zudem sind auch die Unterhaltskosten sehr hoch. Auf der anderen Seite sind die Dampfschiffe bei den Schweizer Gästen und auch bei unseren Aktionären extrem beliebt. Im Augenblick hilft uns das Trockenlegen der Gallia, die Corona-bedingten Ertragsausfälle etwas abzufedern. Aber die Dampfschifffreunde müssen sich keine Sorgen machen: Wir müssten schon am Rand des Ruins stehen, bevor wir alle Dampfschiffe dauerhaft stilllegten.

In der Herbstsession wird in Bern über das Bundesgesetz zur Unterstützung des ÖV in der Covid-Krise beraten. Mit 800 Millionen Franken plant der Bundesrat, die Betreiber des öffentlichen Verkehrs zu unterstützen. Der touristische Verkehr soll von dieser Unterstützung jedoch ausgeschlossen sein. Was sagen Sie dazu?

Als wir die Vorlage sahen, war das für uns sehr ernüchternd. Der Bundesrat hat den touristischen Verkehr während zweieinhalb Monaten verboten. Jetzt drückt die Maskenpflicht die Frequenzen weiter nach unten. Zusammen mit dem Städtetourismus und der Eventbranche sind wir sicher diejenigen, die am meisten unter der Krise leiden. Wir hoffen sehr, dass die Vorlage vom Parlament noch in unserem Sinne korrigiert wird.

Wie wichtig ist für die touristische Schifffahrt in der Schweiz eine Unterstützung durch den Bund?

Es ist schlicht und einfach eine Notwendigkeit. Vielen Schifffahrtsunternehmen fehlen die notwendigen Reserven, um die Krise zu überstehen. Investitionen in die Zukunft werden für sie nicht mehr möglich sein. Es kann nicht im Interesse des Bunds sein, dass die Infrastrukturen hier an die Wand gefahren werden. 13 Millionen Passagiere sind jedes Jahr auf Schweizer Seen unterwegs! Aktuell steht die schwierige Budgetphase fürs kommende Jahr bevor. Da werden sich noch manche die Augen reiben und feststellen, dass man angesichts der unsicheren Ertragsaussichten zu schmerzhaften Kosteneinsparungsmassnahmen greifen muss. Kurzarbeit alleine reicht nicht. Es braucht dringend noch weitere Unterstützung, wenn man nicht die ganze Branche gefährden will.

Und wenn die Corona-Krise auch noch in der nächsten Saison anhält?

Eine zweite Krisensaison werden die meisten Schifffahrtsgesellschaften nicht durchstehen. Dann müssen Betriebe geschlossen, von den Eigentümern saniert oder von den Steuerzahlern gerettet werden.

Diego Stocker