Herr Nydegger, die Tourismusbranche wehrt sich vehement gegen die Gebühr von 30 Franken für die Zertifikatsumwandlung. Konnten Sie beim Bund etwas bewirken?

Die Gebühr ist unumstösslich. Immerhin konnten wir aber die Umwandlungskosten senken. Initial war eine Gebühr von 50 Franken geplant.

Gibt es Bestrebungen von Reiseveranstaltern oder Hoteliers, diese Gebühr für die Gäste zu übernehmen?

Darüber ist mir nichts bekannt. Die Gebühr ist zwar ärgerlich – in Frankreich zum Beispiel übernimmt der Staat die Kosten –, aber fairerweise muss man auch sagen: Wenn Touristen für eine Reise in die Schweiz ein paar Tausend Franken ausgeben, dann stört eher der administrative Aufwand als die 30 Franken. Und da sind nun der Bund und die Kantone in der Pflicht, die zentrale Anlaufstelle möglichst kundenfreundlich und unbürokratisch aufzugleisen.

«Letzten Winter haben unsere Schutzkonzepte in den Skigebieten funktioniert. Alle anderen Länder müssen das erst beweisen.»

Trotz der vielen Einschränkungen sind im August und September wieder vermehrt Gäste aus den Golfstaaten und den USA in die Schweiz gereist.

Förderlich war sicher, dass die Golfstaaten eine sehr hohe Impfquote haben, und bei amerikanischen Touristen ist die Quarantänepflicht nach der Rückreise weggefallen. Was uns hingegen überrascht hat, ist die relativ hohe Zahl brasilianischer Touristen, die uns wieder besuchen.

Wer noch fehlt, sind indische Touristinnen und Touristen.

Das ist lediglich eine Frage der Zeit. Momentan gibt es kaum Flugverbindungen in die Schweiz, und auch die Schengen-Visa-Vergabe in Indien ist wegen Corona noch sehr restriktiv. Kommen einzelne Touristen dennoch zu uns, müssen sie nach der Rückkehr in Quarantäne. Das ist natürlich alles suboptimal.

Martin Nydegger
ist seit 2005 für Schweiz Tourismus tätig, seit drei Jahren leitet er die Marketingorganisation. Bevor er Direktor wurde, arbeitete der heute 50-Jährige für Schweiz Tourismus als Landesleiter Holland in Amsterdam, später wechselte er als Leiter Business Development und Mitglied der Geschäftsleitung in die Hauptzentrale nach Zürich. Seine Karriere als Touristiker startete der Berner Seeländer und Bauernsohn bei Engadin Scuol Tourismus, zuerst als Leiter Marketing und danach als Direktor der Tourismusorganisation. Martin Nydegger verfügt über ein Diplom als Tourismusfachmann sowie über ein Executive MBA der Universität Strathclyde in Glasgow. Er ist verheiratet, hat einen 15-jährigen Sohn aus erster Ehe und lebt in Zürich.

Ende Juli haben Sie gesagt, einen «sehr guten Sommer» werde es nicht geben. Jetzt aber schwärmen Sie von einem Rekordsommer, was einheimische Gäste betrifft. Wie kommt das?

Einerseits bin ich davon ausgegangen, dass mehr Schweizerinnen und Schweizer in die Ferien fliegen werden, aber offenbar ist der bürokratische Aufwand zu gross und auch zu kostspielig. Dann hat es im Juli ja nur geregnet, da war noch keine Euphorie angesagt. Erst August und September haben unsere Erwartungen übertroffen. Schweizer wie Europäer haben uns rege besucht, und auch die interkontinentalen Gäste haben in den Bergen für ein solides Geschäft gesorgt.

Bald startet die Wintersaison. In den Skigebieten gilt keine Zertifikatspflicht und die Schweiz hat eine relativ tiefe Impfquote. Könnte sich das rächen?

Es ist positiv, dass wir den Winter mit möglichst wenig Einschränkungen planen können. Damit das so bleibt, müssen die Zahlen noch besser werden, und da hilft nur das Impfen. Wer im Tourismus keine Bereitschaft zum Impfen zeigt, betreibt unterlassene Hilfeleistung. Im internationalen Vergleich haben wir die Krise bisher sehr gut gemeistert, und es kann nicht sein, dass es nun an der Impfquote scheitert. Das wäre, wie wenn man beim Marathon kurz vor der Ziellinie einen unnötigen Schlenker machen würde. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass die Schweiz gegenüber anderen Winterdestinationen einen Vertrauensvorsprung hat.

Weshalb?

Weil unsere Skigebiete schon letzten Winter offen waren – im Gegensatz zum Ausland – und sich gezeigt hat, dass unsere Schutzkonzepte greifen. Alle anderen Länder müssen erst beweisen, dass sie einen Pandemie-Winter ohne Folgeschäden durchführen können.

In Interlaken ging letzte Woche der Switzerland Travel Mart über die Bühne, eine Verkaufsmesse mit 360 Tour-Operators aus 41 Ländern. Hat die Pandemie neue Trends ausgelöst?

Als direkte Konsequenz sind derzeit monoschweizerische Angebote sehr gefragt. Früher wollte man die Schweiz meist mit einer Europatour verbinden. Jetzt sind die Grenzübertritte derart kompliziert, dass die Einkäufer vor allem auf einzelne Länder fokussieren.

«Eine grosse Challenge ist, Nachhaltigkeit lustvoll zu präsentieren. Wir können für dieses Thema nicht mit dem Mahnfinger werben.»

Das ist sicher ganz in Ihrem Sinne.

Natürlich. Die Steigerung der Aufenthaltsdauer ist eines unserer wichtigsten strategischen Ziele. So können wir einen Qualitätstourismus voranbringen, so können Gäste in unser Land eintauchen und nicht nur die Hotspots abgrasen. Zudem ist es nachhaltiger.

Hat die Pandemie dem Ökotourismus einen Schub gegeben?

Da bin ich sehr skeptisch. Eventuell werden sich Firmen nun zweimal überlegen, ob ihre Businessleute wegen eines zweistündigen Meetings über den Atlantik fliegen müssen. Aber dass jetzt alle auf Ökotourismus umsteigen, halte ich für unrealistisch. Hingegen kann ich mir vorstellen, dass Touristen ein Land künftig bewusster erleben wollen. Darum haben wir auch unsere Swisstainable-Kampagne gestartet.

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Diese beinhaltet unter anderem einen Onlineshop mit nachhaltigen Reiseangeboten, darunter Waldbaden, Frischkäse selber machen oder ein Sightseeing durch Zürich zu Fuss. Das scheint mir nicht sehr innovativ.

Ich gebe Ihnen insofern recht, als das Wort Nachhaltigkeit inzwischen für vieles herhalten muss. Es gibt mittlerweile sogar nachhaltige Kohlekraftwerke. Mit Swisstainable wollen wir der Nachhaltigkeit einen Schweizer Stempel aufdrücken. Aber das bedeutet nicht einfach Ökotourismus, das wäre zu eng gefasst.

Was ist denn Ihre Vision?

Ich bin der Überzeugung, dass wir nachhaltiger sind als andere Destinationen. Mit Swisstainable wollen wir einerseits besser bekannt machen, was wir schon seit langem tun, etwa den öffentlichen Verkehr. Für uns ist das kalter Kaffee, aber internationale Touristen finden das relativ spektakulär. Andererseits müssen wir auch neue Angebote schaffen. Nachhaltigkeit ist zudem nicht nur ökologisch.

Sondern?

Nachhaltigkeit betrifft zum Beispiel den Umgang mit Angestellten. Und gerade dank chinesischen und indischen Gästen, die zwar mit dem Flugzeug, aber in der Nebensaison anreisen, können wir Ganzjahresstellen anbieten und einigermassen anständige Löhne zahlen.

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Ihr Vorgänger Jürg Schmid hat in einem aktuellen Thesenpapier vorgeschlagen, den naturnahen Tourismus besser zu vermarkten, unter anderem mit Wildtiersafaris. Was halten Sie davon?

Geführte Touren in Naturparks, auf denen man Gämsen, Hirsche oder Steinböcke beobachten kann, sind sicher sinnvoll, wenn man nachhaltigen Tourismus betreiben will. Aber der Grat zwischen touristischer Wertschöpfung und Naturschutz ist sehr schmal, da muss man umsichtig vorgehen. Unsere Bewegung Swisstainable beginnt jetzt, Angebote wie zum Beispiel in Naturpärken zu vernetzen, breit bekannt und verfügbar zu machen. Da könnte man an Tempo sicher einen Zahn zulegen. Wir sind mit Swisstainable aber noch nicht am Ziel, wir haben erst begonnen.

Wo liegen die Herausforderungen?

Eine grosse Challenge ist, Nachhaltigkeit lustvoll zu präsentieren. Wir können nicht mit dem Mahnfinger werben. Wir sind nicht der WWF, sondern eine Tourismusorganisation. Deshalb müssen wir den richtigen Ton finden, wie man auf das Thema mit Freude aufmerksam macht.

Gerade eben haben Sie Schweiz Tourismus einer Reorganisation unterzogen. Weshalb?

Weil wir uns für die Zukunft fit machen wollen. Wir haben die Märkte neu organisiert und die Führungslast auf zwei Köpfe verteilt. Neu gibt es je einen Leiter für die Märkte West und Ost. Auch im Marketing haben wir umfassende Änderungen vorgenommen. Bisher hatten wir saisonale Teams, jetzt haben wir sie nach den klassischen Disziplinen wie Campaigning oder Distribution aufgeteilt.

«Heute haben wir 33 Büros im Ausland mit festen Büromieten und unbefristeten Arbeitsverträgen. Das entspricht nicht mehr dem Zeitgeist.»

Welche Vorteile bringt das?

Die saisonalen Abteilungen hatten während des Jahres sehr unterschiedliche Belastungen. Mit der neuen Struktur sind wir produktiver, weil wir Fachleute gezielter einsetzen können.

Sie wollen die Märktepräsenz auch mit «Antennenbüros» ausweiten. Was heisst das konkret?

Heute haben wir 33 Büros im Ausland mit festen Büromieten und unbefristeten Arbeitsverträgen. Das entspricht nicht mehr dem Zeitgeist. Unsere Aussenstationen müssen flexibler werden. In Lissabon haben wir eben ein Experiment gestartet und eine Person für zwei Jahre angestellt, die den Markt besser erschliessen soll. Gelingt es nicht, können wir schnell reagieren und es anders oder an einem anderen Ort versuchen. Mittelfristig wollen wir zusammen mit den Antennenbüros bis zu 40 Niederlassungen im Ausland aufbauen.

Wagen Sie einen mittelfristigen Ausblick, was die Tourismuszahlen betrifft?

Beim Freizeittourismus sollten wir 2023 etwa zu 90 Prozent an die Rekordzahlen von 2019 herankommen. Beim Geschäftstourismus sieht es schlechter aus, da rechnen wir eher mit 70 Prozent. Derzeit hat der Tourismus vor allem mit physischen Barrieren zu kämpfen – Visa, Tests, Zertifikate. Aber der Wunsch, in die Schweiz zu reisen, ist präsent wie eh und je.