Anne Lévy, waren Sie diesen Winter Ski fahren?

Nein, ich fahre schon seit Jahren nicht mehr Ski. Aber ich gehe trotzdem sehr gerne in die Berge. Allerdings fehlte mir über Weihnachten die Zeit.

Die Schweiz wurde im Ausland und zum Teil auch im Inland scharf für die offenen Skigebiete kritisiert. War der Entscheid rückblickend richtig?

Ich muss sagen, es hat besser funktioniert als gedacht. Die Kantone haben die Situation sehr gut gemeistert. Beeindruckt hat mich das Beispiel Graubünden, wo man schnell auf den Ausbruch in einem Hotel reagiert hat und so die Ausbreitung stoppen konnte. Überhaupt freut es uns, zu sehen, wie vorsichtig die Menschen nicht nur in den Skigebieten sind.

Anne Lévy (49) ist seit 1. Oktober 2020 Direktorin des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Die gebürtige Bernerin hat in Lausanne Politikwissenschaft studiert und verfügt über einen Executive MBA in Non-Profit-Organisations-Management der Universität Freiburg. Lévy gilt als Public-Health-Spezialistin und arbeitete viele Jahre im Bereich Suchtprävention. Ab 2009 leitete sie sechs Jahre lang den Bereich Gesundheitsschutz im Gesundheitsdepartement von Basel-Stadt. Anschliessend führte sie während fünf Jahren die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Bis zu ihrem Antritt als Gesundheitsdirektorin dozierte Lévy auch an verschiedenen Schweizer Fachschulen und Universitäten. Anne Lévy lebt mit ihrem Ehemann in Bern.

Heisst das, Sie können ausschliessen, dass die Seilbahnen bei einer Verschlimmerung der Lage geschlossen werden?

Das Problem ist, dass die meisten Menschen nicht wissen, wo sie sich angesteckt haben. Es heisst immer, niemand habe sich im Restaurant, im Hotel oder in der Seilbahn angesteckt. Wissen tun es die meisten nur, wenn sie sich innerhalb der Familie oder im Freundeskreis angesteckt haben. Klar ist hingegen: Übertragungen finden dort statt, wo sich Leute treffen. Je mehr Leute auf engem Raum zusammenkommen, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich ansteckt. Deshalb kann ich leider nichts versprechen oder ausschliessen. Es hängt von der weiteren Entwicklung der Pandemie ab. Prognosen sind schwierig.

Wie bewerten Sie die Umsetzung der Schutzmassnahmen in der Branche?

Das Feedback, das wir aus den Kantonen erhalten, welche für die Kontrollen zuständig sind, ist gut bis sehr gut. Aber man muss sich immer im Klaren darüber sein, dass auch das beste Schutzkonzept eine Übertragung nicht mit hundertprozentiger Sicherheit verhindern kann. Ansteckungen können über Aerosole erfolgen, weshalb wir immer sagen: Draussen ist besser als drinnen, mit Maske besser als ohne Maske, mit Abstand besser als ohne Abstand.

Eine besondere Herausforderung für die Gastronomie …

Ja, im Pandemiefall hat sie tatsächlich schlechte Voraussetzungen. Zum Essen muss man die Maske ausziehen. Internationale Studien belegen, dass in der Gastronomie für Übertragungen ein hohes Risiko besteht. Selbstverständlich ist die Gastronomie aber nicht schuld an der Pandemie. Die Gastrobranche ist stark betroffen, und ich habe sehr viel Respekt davor, mit wie vielen Innovationen und Ideen die Branche trotzdem ihre Dienstleistungen erbringt, zum Beispiel mit Take-away-Angeboten, und so im Kampf gegen die Pandemie mithilft.

In Innenräumen dürfen wir uns zu zehnt treffen, aber auf der Restaurantterrasse darf ich mit meiner Freundin kein Bier trinken – welche Logik steckt dahinter?

Einschränkungen im privaten Bereich sind besonders hart. Hier mussten wir gewisse Zugeständnisse machen, sonst hätte zum Beispiel eine fünfköpfige Familie weiterhin gar niemanden mehr treffen können. Aber wenn man sich im Privaten trifft, dann mit Menschen, die man kennt. Es geht um die Anzahl Leute, die man trifft. Und auf einer Restaurantterrasse hat es nun mal mehr als zehn Leute.

Dafür hält man sich im Freien auf.

Draussen ist sicher besser als drinnen. Aber gemäss dem Feedback aus der Branche brächte es den Gastrobetrieben betriebswirtschaftlich ohnehin wenig, wenn sie lediglich die Aussenbereiche öffnen könnten. Eine Öffnung der Terrassen ist zurzeit keine Lösung.

Wir befinden uns am Anfang des zweiten Pandemiejahrs. Wie soll ich als Unternehmer mit der nicht enden wollenden Unsicherheit umgehen?

Darauf habe ich leider keine befriedigende Antwort. Wir alle – und die Tourismusbranche in besonderem Masse – haben ein Interesse daran, dass sich die Zahl der Neuinfektionen in der Schweiz auf tiefem Niveau bewegt. Einfach zu öffnen, ohne Rücksicht auf die epidemiologische Lage, würde niemandem etwas bringen, da Ferien in einem Land mit hohen Infektionszahlen nicht attraktiv sind und nach der Rückkehr Quarantäne zur Folge haben.

Das Gastgewerbe, aber auch die Eventbranche fordern eine gewisse Planungssicherheit. Was muss passieren, damit Sie diese gewährleisten können?

Es ist typisch für eine Krise, dass es genau diese Planungssicherheit nicht gibt. Lichtblicke bieten das Testen und die Impfungen. In Israel, wo ein grosser Teil der Bevölkerung bereits geimpft ist, können gewisse Anlässe unter bestimmten Bedingungen wieder stattfinden. Wir müssen uns gedulden, bis die Impfrate auch bei uns hoch genug ist.

Wann wird das sein?

Wir halten an unserem Ziel fest, bis im Juni alle Impfwilligen zu impfen – unter der Bedingung, dass die Impfstoffe wie angekündigt eintreffen und die Kantone rasch verimpfen. Wir wissen allerdings noch nicht, wie viele Menschen geimpft sein müssen, bis eine Herdenimmunität erreicht ist. Aber wenn die über 50-Jährigen weitgehend durchgeimpft sind, wird es hoffentlich seltener schlimme Krankheitsverläufe geben.

Bis im Sommer soll auch das international anerkannte Impfzertifikat da sein. Mit welcher Datenbasis?

Aus Datenschutzgründen dürfen wir kein zentrales Datenregister führen. Das ist aus technischer Sicht jedoch auch gar nicht nötig. Das Zertifikat wird lokal auf dem Smartphone gespeichert sein, nicht zentral beim Staat. Man kann sich das wie ein SBB- oder Ticketcorner-Billett vorstellen. Wenn Sie es nicht dabeihaben, dann kann Ihnen der Ticketaussteller auch nicht weiterhelfen, da er es nirgends gespeichert hat.

Wann können die Menschen wieder entspannt reisen?

Dazu müssen wir die Pandemie zuerst weltweit in den Griff bekommen. Bis jedoch ein grosser Teil der Menschen durchgeimpft sein wird, dürfte es sicher noch dauern.

Gleichzeitig werden immer wieder Forderungen laut, Flüge aus bestimmten Hochrisikoländern zu streichen – jüngst aus Brasilien. Was halten Sie von solchen Forderungen?

An Weihnachten gab es bereits keine Flüge aus dem Vereinigten Königreich und Südafrika mehr. Dabei geht es nicht darum, die Einfuhr von neuen Virusvarianten komplett zu verhindern, sondern ihre Ausbreitung zu verzögern. Das hat recht gut funktioniert. Deshalb sind solche Massnahmen eine Option. Was Brasilien betrifft, ist dies jedoch schwierig, da die meisten Flüge zwischen Brasilien und der Schweiz über Portugal abgewickelt werden, Direktflüge sind vergleichsweise selten. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns in ganz Europa abstimmen. Die Diskussionen laufen.

Einreisende, die mit dem Flugzeug reisen, müssen Negativtests vorweisen, solche, die auf dem Landweg unterwegs sind, nicht. Ergibt das Sinn?

Bei den Flügen handelt es sich um eine internationale Regelung. Im Flugzeug sitzen viele Leute auf kleinem Raum. Zudem ist die Kontrolle bei Flugreisen einfacher als an den Landesgrenzen. Kommt man aus einem Land, für das eine Quarantänepflicht gilt, muss man sich jedoch in jedem Fall testen lassen, egal, auf welchem Weg man einreist.

Aber ist die unkontrollierte Einreise über den Landweg am Ende nicht risikoreicher als die Einreise per Flugzeug, wo Identität und Herkunft jedes Passagiers bekannt sind?

Auch auf dem Landweg wird kontrolliert – aber eine lückenlose Kontrolle ist nicht möglich. Das Reisen ist allgemein ein Risiko, deshalb rät der Bundesrat immer noch von Auslandreisen ab. Hier braucht es von jeder und jedem Einzelnen viel Verantwortung und Selbstdisziplin.

Halten Sie Flugreisen aus ethischer Sicht noch für vertretbar?

Diese Entscheidung muss jede Person für sich fällen. Es gibt sicher gute und weniger gute Reisegründe. Ich persönlich vermisse das Reisen sehr, und ich glaube, das ist ganz normal.

Das Gespräch führten Patrick Timmann und Sabine Lüthi.