Gastkommentar von Christian Laesser, Professor für Tourismus und Dienstleistungsmanagement an der Universität St. Gallen.

Seit gut zwei Wochen ist die Schweizer Wirtschaft in einer Schockstarre. Anbieter persönlicher Dienstleistungen und damit die Tourismusbranche sind hiervon in besonderem Ausmass betroffen. Es bleibt derzeit nur die Hoffnung, dass die Hilfen des Bundes und der Kantone wenigstens Teile des finanziellen Schadens und den Stress zu mindern vermögen. Es gilt aber auch, die erzwungene Ruhe und die Rezession zu nutzen, die unmittelbare Zukunft nach dieser Zäsur mitunter strategisch anzudenken.

Was wir derzeit durchleben, ist in der Tat eine Zäsur; medizinisch, psychisch und ökonomisch. Selbst wenn das Virus «besiegt» und die medizinische Krise irgendeinmal längst vorbei ist, wird die wirtschaftliche Krise langfristige Spuren, auch in unserer psychischen Gesundheit, hinterlassen. Die klinische Psychologin Ilene Green spricht in einem Interview mit Bloomberg vom 22. März von einer Art posttraumatischen Belastungsstörung. «All dies wird den Menschen auf stille Art und Weise auf unbestimmte Zeit im Gedächtnis bleiben... Ich würde es nicht als Geisteskrankheit bezeichnen, aber so ein Ereignis wird in der Psyche eingebettet.»

Als unmittelbare Folge dieses Schocks könnten sich vier spezielle Bedürfnisse ergeben.

Zunächst: Menschen haben das Umherstreifen und Entdecken in den Genen. Diesem Drang werden die meisten, sobald wieder gestattet und möglich, glücklich erliegen und vielleicht sogar gewisse Vorhaben nachholen. Sodann dürften Anliegen an Hygiene und Sauberkeit, vielleicht auch an die Sicherheit, also bislang kaum beachtete «Must-haves», an Bedeutung gewinnen. Das dazugehörige Vertrauen, dass etwas richtig umgesetzt wird und funktioniert, wird ebenfalls zu einer wichtigen Währung. Drittens – nachdem Hunderte von Millionen Menschen arrestiert und sozusagen einen mehrwöchigen Feiertagsstress erdulden mussten – wird es Entspannungsmechanismen brauchen (beispielsweise in Form von vorübergehender Distanz). Nach sehr viel erzwungenem «Wir» braucht es auch wieder einmal ein freiwilliges «Ich» (und vielleicht auch ein «Wir» zusammen mit anderen). Viertens wird die zurückliegende physische und soziale Isolation den Wunsch nach gemeinsamen Erlebnissen beschleunigen. Dies umso mehr, als die Menschen möglicherweise digitalisierungsmüde und froh sind, dem sehr hohen Grad mittelbarer und virtueller Kommunikation zu entfliehen und den Austausch mit anderen wieder unmittelbar und insbesondere nicht mehr immer nur «editiert» (Social Media lässt grüssen) zu pflegen.

Uns das vor Augen haltend, können wir zu Recht hoffen, dass die touristische Schweiz gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird. Unser Land ist sauber, sicher, und funktioniert. Und es ist – nicht nur aus einer touristischen Perspektive – innovativ in seinen Antworten auf Kundenbedürfnisse. Allerdings wird die Erholung nur schrittweise vorangehen; man muss wohl von drei Phasen ausgehen: In einer ersten Phase wird der inländische, in Phase zwei der regionale (zum Beispiel Nachbarländer) und erst in Phase drei der international-interkontinentale Tourismus langsam wieder erwachen. Die Unterschiede entstehen vor allem aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei der wirtschaftlichen Erholung sowie der Losgrössen in Sachen Reisebudgets (kleine Budgets in einer Rezession vs. grössere Budgets, wenn die Rezession überwunden oder die Erwartungen entsprechend angepasst sind).

Für die Anbieter bedeutet dies zunächst, mit dem Ziel einer noch intensiveren Kostenkontrolle ihre Prozesse weiter zu flexibilisieren und hierbei noch mehr in möglichst skalierbaren (hoch- und runterfahrbaren) «Produktionsprogrammen» zu denken. Hand in Hand mit diesen Überlegungen muss die Frage – ehrlich und begründet (!) – beantwortet werden, welche Prozesse in Zukunft wirklich noch selber inhouse erbracht werden müssen (alle wirklich differenzierenden und damit Wert schaffenden Prozesse!) und welche, mit Ziel Effizienzgewinn und Kostenreduktion, beruhigt ausgelagert werden können (alle Back-up- und nicht oder kaum differenzierenden Prozesse). Und dann?

Stellen Sie sich Ihr Hotel vor. Was sehen Sie? Kurzfristig vielleicht einen Aussenposten eines Spitals, eine Quarantänestation oder ein Standort für Homeoffice. Allgemein aber eine Immobilie, welche dazu dient, dass sich Gäste hoffentlich bequem ausruhen und allenfalls minimal verpflegen und mit anderen kommunizieren können (damit sie ausserhalb von Ruhezeiten ihren Aktivitäten nachgehen können). Man könnte – naheliegend – aber auch eine physische und einmal nicht virtuelle Plattform zur Erzeugung von (Zusatz-)Geschäften und Angeboten sehen. Letztlich «besitzt» man den Gast für 24 Stunden oder mehr. Oder einen Ort, an welchem Gäste – anders als beispielsweise in einem B & B – unter strengsten hygienischen Bedingungen übernachten können und sie sich keine Sorgen um ihre Gesundheit machen müssen. Oder, zu guter Letzt, wieder einmal einen Ort, wo sich Menschen, gestresst vom gemeinsamen Hausarrest mit ihren Liebsten (welche ihnen vielleicht danach und vorübergehend nicht mehr so lieb sind), kurzzeitig zurückziehen und sich wieder fangen können.

Stellen Sie sich an die Talstation Ihrer Bergbahn. Was sehen sie? Teure technische Anlagen, damit Menschen und Material auf oder von Gipfel und Kreten transportiert werden können (wo sie dann etwas unternehmen). Man könnte aber auch einen Themenpark für vermehrt gemeinsame Erlebnisse für von Arrest und Isolation geprägte Menschen sehen. Oder einen Ort, an welchem Menschen ihre physischen Defizite des Arrestes wieder wettmachen können, indem sie jeden Tag Arrest mit einer bestimmten Zahl von Höhenmetern kompensieren.

Kurzum: Betrachten Sie die oftmals wenig differenzierte touristische Kernleistung einmal nur als Ressource für höherwertige, differenzierende Angebote, vor dem Hintergrund zuvor beschriebener Bedürfnisse: Ein hygienisches Sorglospaket (vielleicht sogar preisgünstig zertifiziert) für Besorgte, emotionaler Kitt für vorübergehend zerrissene Beziehungen, Abkühl- und Regenerationsraum für unter Druck stehende Beziehungen, spielerische Lern- und Ergänzungsprogramme für Kinder nach dem Homeschooling, spielerisches physisches Kompensationsprogramm zur Überwindung der Folgen des Arrests und so weiter. Ideengewinnung und Umsetzung verlangen eine Zusammenarbeit mit Personen von ausserhalb des Tourismus, seien dies Mediziner, Psychologen, Lehrer oder Service-Designer. Aber es ist genau dieses Weiterdenken über touristische Kernleistungen hinaus, welches Innovation, Differenzierung und damit Nachfrage und Zahlungsbereitschaft generiert.

Tourismus kann zur Heilung des Corona-Schocks beitragen und sich hierbei teilweise selbst heilen – mit viel Einfühlungsvermögen für die teilweise veränderten Bedürfnisse der Gäste. Und wenn dann der Bund noch hilft, mit einer Negativsteuer die mit Corona-Fremdkapital belasteten Bilanzen wenigstens etwas zu entlasten, umso besser. Bleiben Sie gesund!