Übertourismus hat zu schwerwiegenden negativen Auswirkungen geführt: Überbeanspruchung und Beeinträchtigung von Kulturstätten und der natürlichen Umwelt; Verschmutzung, Abfall und Lärm; Kriminalität und explodierender Verkehr. An manchen Orten treffen Touristen (fast) nur noch auf andere Touristen.

Das bekannteste Beispiel für Übertourismus ist Venedig, das an einzelnen Tagen im Jahr von mehr als 130 000 Besuchenden überschwemmt wird. Nicht zu vergessen sind die rund 40 000 Passagierinnen und Passagiere der täglich bis zu vier riesigen Kreuzfahrtschiffe.

Dieser Übertourismus hat zu Unmut in der Bevölkerung geführt, auch in der Schweiz, etwa in Zermatt und Luzern oder hinsichtlich der Rigi oder des Jungfraujochs. Im Jahre 2018 haben nicht weniger als 912 000 Personen die Rigi besucht und mehr als eine Million das Jungfraujoch.

Experten vermuten sogar einen weiteren Anstieg, wenn die Corona-Pandemie überwunden ist. Die von den Regierungen unternommenen Massnahmen gegen den Übertourismus sind wenig erfolgreich. Appelle haben nur eine geringe Wirkung. Deshalb werden häufig die Besuche örtlich und zeitlich begrenzt oder sogar völlig unterbunden. Die bisherigen Massnahmen setzen ausschliesslich bei der Nachfrage an: Die Zahl der Gäste soll vermindert werden, damit für den Rest ein Besuch erfreulicher verlaufen kann.

Ich schlage eine radikal andere Lösung vor, nämlich das Angebot zu erhöhen und nicht die Nachfrage zu beschränken. Dazu sollen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten an einer neuen Stelle identisch repliziert und mithilfe moderner digitaler Technik (virtuelle und erweiterte Realität, Hologramme, Videos, 3-D-Kopien) attraktiv gestaltet werden. Die Geschichte und die Kultur der Sehenswürdigkeit sollen auf diese Weise spannend und zugleich lehrreich vermittelt werden. Gleichzeitig wird für ein geeignetes Angebot an Gaststätten, Hotels und Souvenirläden gesorgt. Entscheidend ist der den Gästen gebotene Zusatznutzen, indem das bauliche Angebot eng mit der Geschichte und der Kultur eines Ortes verknüpft wird.

Im ersten Moment erscheint dieser Vorschlag erschreckend. Er erinnert an Disneylands und andere Freizeitparks. Für manche Bildungsbürger sind Neue Originale sogar ein Kulturfrevel. Dagegen lässt sich argumentieren, dass Besuchern eines historisch replizierten Ortes ein einzigartiges Gefühl dafür vermittelt wird, wie eine historische Stätte in der Vergangenheit ausgesehen hat und wie die Bevölkerung damals gelebt hat. In dieser Hinsicht bietet eine Kopie den Besucherinnen und Besuchern sogar mehr als der «originale» Ort.

Wer sich gegen jegliche Neue Originale wehrt, hat immer noch die Möglichkeit, die originalen Orte zu besuchen. Ein Aufenthalt wird sogar angenehmer, weil ein Teil der Touristen nicht mehr dorthin geht, sondern die Neuen Originale besucht.

Neue Originale zu schaffen, erfordert grosse Anstrengungen. Neben ökologisch und transportmässig geeigneten Orten ist es auch wichtig, die zu kopierenden Bauten so auszuwählen, dass sie nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern dass ein Ganzes entsteht, in dem sich die Besuchenden wohlfühlen. Schwierig ist auch, eine Sehenswürdigkeit mit den dort herrschenden Traditionen, der Geschichte und der Kultur zu verbinden. Letzteres ist besonders bedeutsam, weil dadurch für die kulturell interessierten Touristen ein Zusatznutzen geschaffen wird. Nur wenn dies gelingt, werden die originalen Orte nicht weiter von Besuchern überschwemmt.

Buch: «Venedig ist überall. Vom Übertourismus zum Neuen Original», Bruno S. Frey, Verlag Springer, 2020, ISBN 978-3-658-30278-8

Bruno S. Frey ist ständiger Gastprofessor an der Universität Basel.