Cornelia Mellenberger, von Ihrem Wohnort aus pendeln Sie mit dem Regionalverkehr zu Ihrem Arbeitsplatz in Bern und nicht mit dem Fernverkehr, dem Sie vorstehen. 
Wie gelangen Sie zu persönlichen Erfahrungen im Fernverkehr?

Regionalverkehr und Fernverkehr sind sehr eng miteinander vernetzt. Jedes der beiden Verkehrssysteme funktioniert alleine ohne das andere nicht. 
Der Regionalverkehr übernimmt oft die Rolle des Zulieferers für den Fernverkehr. Dies gilt auch für meine Situation. Reise ich beispielsweise nach Zürich oder Olten, gelange ich mit dem Regionalverkehr zu einem Hauptbahnhof und reise von dort mit dem Fernverkehr weiter und umgekehrt.

Cornelia Mellenberger (40) ist seit Anfang 2019 Leiterin Fernverkehr bei der SBB und in dieser Funktion Mitglied der Geschäftsleitung Personenverkehr. Bei der SBB ist sie 2009 eingestiegen, seit Mitte 2014 war sie Leiterin Unternehmensentwicklung vom Konzern. Zuvor, nach ihrem Studium, war Mellenberger Beraterin bei Pricewaterhouse Coopers im In- und Ausland. Sie studierte an den Universitäten in Bern und Madrid Betriebs- und Volkswirtschaft, mit einem Abschluss als lic.rer.pol. Cornelia Mellenberger ist verheiratet, Mutter zweier Kinder und wohnt in Münchenbuchsee.

Welche Bedeutung hat der Tourismus für den Fernverkehr der SBB?

Wichtig ist, wie man die Schweiz im Ausland wahrnimmt, und zwar nicht nur als Wirtschaftsstandort, sondern auch als Tourismusland. Und da die Schweiz ohne Bahn beziehungsweise ÖV sowohl für die Wirtschaft wie auch den Tourismus unvorstellbar ist, hängen Tourismus und Verkehr eng zusammen. Gerade im Ausland trägt die SBB viel zum guten Image der Schweiz bei. Die für unser Unternehmen wichtigen Werte Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Sauberkeit verbindet man auch mit der Schweiz und dem Tourismus. Wir von der SBB profitieren vom Tourismus und die Tourismusregionen profitieren umgekehrt sehr stark vom funktionierenden öffentlichen Verkehr. Im Gegensatz zu früher, als Gäste etwa mit dem Flugzeug in die Schweiz kamen, und die Bahn nur als Transitweg zu ihrer Destination benutzten, wollen wir mit attraktiven Angeboten die Gäste animieren, während ihres Aufenthalts in der Schweiz vermehrt mit dem öffentlichen Verkehr zu reisen. Zudem bietet die SBB mit dem Gotthard Panorama Express ein eigenes, auf in- und ausländische Touristen ausgerichtetes Produkt auf der Schiene an. Der Tourismus hat also ganz klar für den Bahnbetrieb eine zunehmende Bedeutung, auch für den Fernverkehr, der die Schweiz mit ihren Regionen verbindet und zusammenhält.

Erhalten Sie Rückmeldungen von ausländischen Gästen, wie attraktiv sie die Angebote der SBB halten?

Wir führen Kundenzufriedenheits­umfragen durch – auch bei touristischen Fahrgästen, für welche wir mit dem Swiss Travel Pass ein spezifisches Angebot führen – und analysieren die Rückmeldungen. Diese sind mehrheitlich positiv. Komfort, Sauberkeit und Verlässlichkeit der Bahn werden sehr geschätzt. Sehr wichtig, auch für die Hotellerie, ist die gute Anbindung an die Flughäfen und die Verbindung zwischen wichtigen Schweizer Städten und Destinationen.

Erhalten Sie auch Reklamationen?

Ja sicher. Die SBB fährt über 6000 Züge pro Tag, im dichtesten Schienennetz mit Personen- und Güterverkehr der Welt. Es wäre vermessen zu behaupten, dass sich im Einzelfall Touristen bei Verspätungen oder Einschränkungen des Bahnverkehrs infolge Bau­tätigkeit, wie zurzeit in der Region des Lac Léman, nicht auch beschweren.

Viele Züge sind täglich mit Pendlern besetzt: Was können Sie unter diesen Voraussetzungen den Touristen komfortmässig anbieten?

Rund zehn Prozent unserer Bahnreisenden sind Kunden aus dem Ausland, die in die Schweiz reisen oder innerhalb der Schweiz unterwegs sind. Und diese reisen in der Regel nach dem frühmorgendlichen Pendleransturm. Dies eröffnet den Touristen mehr Platz und entsprechend auch mehr Komfort. Auch an den Wochenenden registrieren wir eine deutlich steigende Nachfrage durch touristische Fahrgäste, insbesondere aus Nachbarländern.

Gibt es «bahnallergische» Touristen aus gewissen Quellmärkten?

Eine Bahnallergie gibt es nicht. Es gibt hingegen Länder, in welchen der ÖV und insbesondere die Bahn als Transportmittel nicht sehr etabliert ist. Entsprechend bestehen gewisse Vorbehalte bedingt durch die Unkenntnis. Eher weniger Zug fahren bei uns Touristen aus den Golfstaaten.

Wie versuchen Sie, touristische Bahnmuffel vom Vorteil des ÖV zu überzeugen?

Neben der guten Leistung, mit einem attraktiven Preis-Leistungs-Angebot und vielen Komfortvorteilen, geht es darum, das gute Angebot in den Herkunftsländern der Touristen und den Tourismusanbietern dort vor Ort zu vermarkten. Dazu arbeiten wir mit unseren Vermarktungspartnern im Ausland zusammen. Es ist für uns sehr wichtig, dass wir vor Ort Zugang zu den Märkten haben, etwa in China oder Indien. Es geht auch darum, 
die Bewegungsströme der Touristen hierzulande zu nutzen. Unsere Tochtergesellschaft Zentralbahn etwa profitiert davon, dass sie in der Verbindungslinie zwischen den touristischen Hotspots Luzern und Berner Oberland aktiv ist und sich mit dem «Luzern Interlaken Express» auch touristisch engagiert. Paketangebote, wie sie neu auch im Rahmen der Grand Train Tour of Switzerland erhältlich sind, wo wir als SBB mit dabei sind, stossen auf grosses Interesse bei den internationalen Touristen.

Das Touristen-GA, der Swiss Travel Pass, ist ein grosser Erfolg. Worauf führen Sie dies zurück?

Dies widerspiegelt den Erfolg des gesamten öffentlichen Verkehrs in der Schweiz mit einer durchgehenden Reisekette unter dem Motto «eine Reise ein Ticket». Ein derartiges Angebot sind sich die Gäste aus dem Ausland nicht gewohnt. Der Swiss Travel Pass bietet ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und die Reisenden sind damit sehr bequem und flexibel unterwegs.

Das Angebot sorgt auch für Kritik. Aufs Schilthorn und aufs Stanserhorn etwa fahren Swiss-Travel-Pass-Inhaber ohne Zuschlag. Dies zum Unmut grösserer Bergbahnen, die von Preisdumping sprechen. Was antworten Sie diesen?

Das Touristen-GA ist ein Erfolgsprodukt. Dass andere auch partizipieren möchten, ist verständlich. Weitet man das Produkt auf zu viele teilnehmende Betriebe aus, hat dies Folgen für die Preisfestsetzung. Die SBB möchte eigentlich den Preis für den Swiss Travel Pass stabil halten oder gar senken. Es gilt, gemeinsam mit der Branche vorsichtig abzuwägen, ob man das Netz allenfalls ausweiten will oder eben nicht.

Das Angebot der TGV-Verbindungen nach Paris wird ausgebaut. Gleichzeitig streicht die SBB die direkte Verbindung von Bern und Interlaken nach Paris. Die Berner Regierung verlangt, dass die Wiedereinführung dieser Linie geprüft wird. Können Sie dies dem Kanton Bern versprechen?

Es ist bedauerlich, dass die direkte Verbindung von Bern nach Paris nicht mehr weitergeführt werden kann. Via Basel gibt es heute und auch in Zukunft ein sehr gutes Angebot, das bereits genutzt wird. Zusammen mit dem Kanton Bern werden wir jedoch an einem runden Tisch die Bedürfnisse des Kantons und dessen Bevölkerung abholen. Aber der Entscheid, dass wir die Direktverbindung nicht mehr anbieten können, ist gefallen.

Das heisst, die SBB kommt auf diesen Entscheid nicht mehr zurück.

Lassen Sie uns erst einmal diesen runden Tisch führen. Danach sehen wir weiter. Sicher ist, dass wir uns für eine aus Kundensicht gute Lösung einsetzen werden.

Weshalb führt die SBB trotz steigendem Bedürfnis das 2009 gestrichene Nachtzug-Angebot nicht wieder ein? Dies wäre doch im Rahmen der Klimadiskussionen eine willkommene Alternative zu Flugreisen.

Die Nachhaltigkeit hat für uns eine grosse Bedeutung. Deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang nicht von Wiedereinführung des Nachtzugs sprechen, sondern von einer Weiterführung. Es ist unsere Strategie, für den internationalen Verkehr, diesen in Kooperation mit unseren ausländischen Partnerbahnen zu betreiben. Wir sind überzeugt, dass wir betreffend Angebot, Rollmaterial und Vertaktung über eine bessere Lösung verfügen, als wenn wir in Eigenregie gegen die ausländischen Bahnen arbeiten würden. Ein Beispiel insbesondere beim Nachtzugsangebot für eine Kooperation ist der Nightjet der Österreichischen Bundesbahnen, der von Zürich nach Wien, Budapest, Prag, Graz, Ljubljana und Zagreb sowie nach Hamburg und Berlin fährt. Dieses Angebot wäre ohne die Leistungen der SBB, die zum Beispiel in der Schweiz die Lokomotiven und die Lokführer stellt, nicht möglich.

Aber gegenüber früher, als das Reisen mit dem SBB-Nachtzug etwa nach Amsterdam oder Rom möglich war, handelt es sich heute klar um ein abgespecktes Angebot.

Nachtzüge produzieren und fahren ist angesichts einer in der Vergangenheit stark rückläufigen Nachfrage nicht einfach und sehr kostenintensiv. In Zukunft ist nicht entscheidend, ob die SBB selbst über ein entsprechendes Angebot und entsprechend notwendiges Rollmaterial verfügt, sondern dass es ein Angebot gibt und dass man das Angebot gemeinsam gut vermarktet.

Die neuen Fernverkehrs-Doppelstockzüge Dosto kommen mit grosser Verzögerung auf die Schiene. Ist dies Ihnen als Leiterin Fernverkehr peinlich?

Peinlich nicht, aber ärgerlich und sehr bedauerlich für unsere Kunden, die teilweise von Verspätungen oder gar Ausfällen betroffen waren. Dafür haben wir uns entschuldigt und den GA- und Abokunden Gutscheine zukommen lassen. Das Thema FV-Dosto steht weit oben auf der Agenda. Denn es kann uns nicht egal sein, wenn ein in grossem Umfang bestellter wichtiger Zug nicht zur geplanten Zeit und nicht verlässlich fährt. Derzeit ist man daran, die Probleme zu beheben. Die Zahl der Zugs­ausfälle und Verspätungsminuten ist deutlich gesunken. Die Tendenz entwickelt sich in die richtige Richtung, aber es reicht noch nicht. Bombardier verbessert die Ver
lässlichkeit, damit wir weitere Züge in Betrieb nehmen können.