Zermatt, Grindelwald oder Saas-Fee werden nie in den Reigen der Bergsteigerdörfer aufgenommen werden. Das, obwohl sie als hochalpine Destinationen mit Matterhorn, Eiger und Mischabelgruppe über die mitunter berüchtigtsten Berggipfel der Alpen verfügen und massgeblich zum Alpinismus in der Schweiz beigetragen haben. Mit der Philosophie der Bergsteigerdörfer haben die Touristenmetropolen im Wallis und Berner Oberland, die 2021 gemeinsam rund 3,45 Millionen Logiernächte verbuchten, aber zu wenig gemeinsam, als dass sie das Auswahlverfahren erfolgreich bestehen würden.

Die Auswahl der Bergsteigerdörfer folgt strengen Aufnahmekriterien.

Julia Isler, Gesamtprojektleiterin Bergsteigerdörfer Pilot Graubünden

In Bergsteigerdörfern regieren nicht die Superlative. Die Ortschaften zeichnen sich nebst ihrer alpinen Lage auch durch ihre Kleinheit – maximal 2500 ständige Einwohner –, eine bodenständig gebliebene Tourismusinfrastruktur oder unberührte Berggipfel aus. Ferner verfügen sie über ein intaktes Orts- und Landschaftsbild ohne grosse Wintersportanlagen oder andere technische Grossbauten, aber mit vielseitigen Bergsportmöglichkeiten wie Wandern, Biken, Skitouren oder Klettern. Bergsteigerdörfer verfolgen den Ansatz des sanften Tourismus.

«Die Auswahl der Bergsteigerdörfer geschieht nicht zufällig, sondern folgt strengen Aufnahmekriterien», weiss Julia Isler, Gesamtprojektleiterin Bergsteigerdörfer Pilot Graubünden und verantwortlich für die Regionalkoordination Bergsteigerdorf St. Antönien GR. Die Walsersiedlung im Prättigau mit rund 300 Einwohnern und 500 Gästebetten wurde 2021 als erstes Schweizer Bergsteigerdorf gekürt. Noch im selben Jahr folgte der gemeinsame Eintritt der Bündner Dörfer Lavin, Guarda und Ardez.

Lokale und regionale Wertschöpfungskette im Fokus
Die Idee der Bergsteigerdörfer lancierte 2008 der Österreichische Alpenverein. Das Ziel ist eine länderübergreifende, alternative und naturnahe Tourismusentwicklung, ganz im Sinne der Alpenkonvention. Ein Gegenpart zum Massentourismus. Die Dörfer erhalten Entwicklungsperspektiven; Logiernächtezahlen oder die Maximierung der Gästetransportkapazitäten bleiben aber im Hintergrund.

In der Schweiz stellt der Schweizer Alpen-Club (SAC) das Patronat der Initiative und kümmert sich um die Koordination und die Kommunikation. Laut SAC-Präsident Stefan Goerre passen die Bergsteigerdörfer-Werte gut zum SAC: «Die Erhaltung der alpinen Landschaft und die Förderung eines naturverträglichen Bergsports sind zentrale Anliegen des SAC.» Finanziert wird die laufende dreijährige Pilotphase hauptsächlich durch das Innotour-Programm des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) und das Amt für Wirtschaft und Tourismus des Kantons Graubünden.

Der exklusive Kreis der Bergsteigerdörfer umfasst heute über dreissig Ortschaften in Österreich, Deutschland, Italien, Slowenien und der Schweiz. Der Fokus liegt auf der Sensibilisierung für einen respektvollen Umgang mit der Natur und der Pflege der Kulturgüter. Im Sinne der lokalen Wertschöpfungskette werden lokale Initiativen gefördert. «Grossprojekte mit externen Investoren werden als sehr kritisch betrachtet», sagt Marion Hetzenauer vom Österreichischen Alpenverein. Dieser Ansatz sorgt hier und dort für Skepsis. Was, wenn man seine Tourismusstrategie ändern will? Laut Julia Isler entstehen keine gesetzlichen Einschränkungen, und es besteht immer die Möglichkeit eines Austritts aus dem Bergsteigerdörfer-Verbund.

Es gibt nicht mehr viele Bergdörfer, die die strengen Bergsteigerdorf-Kriterien erfüllen.

Stefan Goerre, Präsident Schweizer Alpen-Club

Sichtbarkeit dank Kooperationen mit Tourismuspartnern
Die Nachhaltigkeitsphilosophie hinter den Bergsteigerdörfern entspricht dem zeitgemässen Ruf nach ganzheitlicher Destinationsentwicklung und Wertschätzung der einheimischen Bevölkerung. Doch geht die Rechnung auch finanziell auf? Schliesslich steht das Label auch für den Verzicht auf einen rein umsatz- und wachstumsorientierten Tourismus.

Zu den über 26 Milliarden Euro Umsatz, die jährlich im Alpenraum durch den Tourismus erwirtschaftet werden, tragen die Alpendörfer ihrer Philosophie zufolge nur minimal bei. Zwar wird ein besonderer Schwerpunkt auf den befruchtenden Ideen- und Erfahrungsaustausch unter den Bergsteigerdörfern gelegt. Doch 15 Jahre nach der Gründung liegt der Initiative kaum eine touristische Vermarktungsstrategie zugrunde. Auch zeigen Erhebungen im In- und Ausland, dass der Begriff «Bergsteigerdorf» noch bei den wenigsten Gästen verankert ist.

Das Potenzial, dies zu ändern, ist laut Julia Isler vorhanden: «Bergsteigerdörfer gewinnen auf nationaler wie internationaler Ebene an Sichtbarkeit und erreichen über die involvierten Alpenvereine über 2,5 Millionen Mitglieder. Sie entsprechen genau der gewünschten touristischen Zielgruppe der Bergsteigerdörfer.» Künftig soll die Kommunikation über die Kanäle der angeschlossenen Tourismusorganisationen gestärkt werden. Im Zuge der nationalen Ausweitung sollen beispielsweise Gespräche mit Graubünden Ferien oder Schweiz Tourismus geführt werden, so Isler.

Alsbald sollen weitere Ortschaften in der ganzen Schweiz das Bergsteigerdorf-Label erhalten. Der Bewerbungsprozess sei am Laufen, sagt Julia Isler. SAC-Präsident Goerre fügt an: «Generell ist es leider so, dass es in der Schweiz nicht mehr so viele Bergdörfer gibt, die die strengen Bergsteigerdorf-Kriterien erfüllen können.»

Die Alpenkonvention
Acht Länder des Alpenraums die Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Slowenien, die Fürstentümer Monaco und Liechtenstein, sowie die Europäische Union unterzeichneten 1991 mit der Alpenkonvention die Leitprinzipien für ein nachhaltiges Leben in den Alpen jetzt und in der Zukunft. Die Vertragsparteien verpflichten sich, durch eine sektorenübergreifende, ganzheitliche Politik ein umweltverträgliches Wirtschaften im Alpenraum zu gewährleisten. Ein Kernthema der Alpenkonvention umfasst auch den Tourismus. Es soll «mit spezifischen Massnahmen und Empfehlungen, welche die Interessen der ansässigen Bevölkerung und der Touristen berücksichtigen (...), durch einen umweltverträglichen Tourismus zu einer nachhaltigen Entwicklung des Alpenraums» beigetragen werden. 40 Prozent der Alpengemeinden verzeichnen einen beachtlichen Fremdenverkehr.

Nora Devenish