Guglielmo Brentel, gemeinsam mit Vertretern aus Zürich, Luzern, Genf und dem Tessin wollen Sie dem Städtetourismus einen Booster verpassen. Was ist die Idee dahinter?
Wir wollen nicht tatenlos zusehen, wie die Pandemie dem Städtetourismus zusetzt. Deshalb haben wir der Politik einen Vorschlag unterbreitet, der sie keinen Rappen kostet, Städten aber wesentlich helfen könnte, nach der Krise besser dazustehen. Shopping am Sonntag steht gemäss Umfragen ganz weit oben auf der Wunschliste von Touristen – und darum fordern wir eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten für die Innenstädte.

Sie möchten also, dass die Innenstädte als Tourismuszonen deklariert werden, damit die Geschäfte auch am Sonntag öffnen können?
Genau. In St. Moritz, Grindelwald oder Zermatt ist dies möglich, weil die Verordnung zum Arbeitsgesetz Ausnahmen für Tourismusorte definiert. Aber auch die Städte haben touristische Bedürfnisse. Zürich ist mit über sechs Millionen Logiernächten vor der Pandemie die grösste Feriendestination der Schweiz. In der aktuellen Verordnung werden Städte gegenüber den alpinen Destinationen benachteiligt, weil für sie keine Ausnahmen gelten. Offenbar betrachtet Bundesbern den Tourismus wie Bergbauernhilfe.

«Wenn Sie wollen, dass in den Innenstädten am Sonntag mehr Leben einkehrt, müssen Sie bei den Ladenöffnungszeiten ansetzen.»

Bergbauernhilfe?
Die Verordnung zum Arbeitsgesetz verlangt eine möglichst hohe Saisonalität, damit eine Gemeinde Tourismuszonen definieren kann. Das ist unfair und vor allem nicht zielführend. Denn gerade Städte sind bemüht, saisonale Schwankungen möglichst tief zu halten. Zudem sind sie für das gesamte Tourismussystem relevant. Wenn Zürich attraktiver wird, ist die Chance gross, dass Touristen von Zürich aus auch nach Zermatt oder St. Moritz reisen.

Warum ist Bern bei diesem Vorstoss nicht dabei?
Das Interesse von politischer Seite war bisher nicht vorhanden.

Vielleicht, weil Sonntagsverkäufe in rot-grünen Städten schlecht ankommen?
Moment, wir reden hier nicht von einem generellen Sonntagsverkauf. Mit unserem Vorstoss wollen wir lediglich die Innenstädte am Sonntag beleben. Die Geschäfte hätten also nur in bestimmten, von Touristen frequentierten Stadtteilen geöffnet. Kommt hinzu, dass die Anpassung der Verordnung des Arbeitsgesetzes nicht bedeutet, dass das Sonntagsarbeitsverbot aufgehoben wird. Sie bietet lediglich die gesetzliche Grundlage, damit die Kantonsgemeinden über die Einrichtung von Tourismuszonen diskutieren können. Ob und wie dies geschieht, entscheidet am Schluss die Bevölkerung.

Guglielmo Brentel (66) sitzt seit 1996 im Vorstand von Zürich Tourismus, 2015 wurde er zum Präsidenten gewählt. Darüber hinaus ist er Mitglied des Verwaltungsrats der Flughafen Zürich AG und Präsident von weiteren privatwirtschaftlichen Hotelunternehmungen. Der gebürtige Unterseener absolvierte die École hôtelière de Lausanne (EHL) und ist Eigentümer der H & G Hotel Gast AG, einer Führungs- und Consultingfirma für Hotel- und Gastronomiebetriebe. Von 1998 bis 2005 war er Präsident des Zürcher Hotelier Vereins, von 2005 bis 2014 Präsident von HotellerieSuisse. Danach amtete Guglielmo Brentel zwei Jahre lang als Präsident der EHL. Der 66-Jährige ist geschieden und hat zwei Kinder.

In einer aktuellen Umfrage des «Tages-Anzeiger» findet sich keine Mehrheit für die Sonntagsverkäufe unter der Zürcher Bevölkerung.
Wenn man die Zürcherinnen und Zürcher fragt, ob die Läden am Sonntag öffnen sollen, werden sie das natürlich ablehnen. Wir aber wollen keine generellen Sonntagsöffnungen. Das werden wir selbstverständlich sehr gut erklären müssen. Bloss, damit wir darüber überhaupt diskutieren können, muss erst die Verordnung zum Arbeitsgesetz angepasst werden.

Würden offene Läden am Sonntag wirklich mehr Touristen nach Zürich locken?
Das allein wahrscheinlich nicht, aber wenn Sie wollen, dass in den Innenstädten am Sonntag mehr Leben einkehrt, müssen Sie bei den Ladenöffnungszeiten ansetzen. Denn wenn die Shops geschlossen sind, kommen auch keine Gäste in die Restaurants. Wenn die Restaurants geschlossen sind, flanieren weniger Leute durch die Gassen, und dann haben auch die Kulturinstitutionen weniger Besucher. Es trifft also die ganze Dienstleistungskette.

Luzerner Detaillisten kritisierten kürzlich, dass am Schluss nur die grossen Ladenketten profitierten.
Mir scheint eher das Gegenteil der Fall. Die Grossen müssen gut rechnen, ob es sich lohnt, auch am Sonntag zu öffnen. Familienbetriebe können stattdessen am Montag schliessen oder später öffnen, je nach Kundenbedürfnis. In Zürich haben wir mit den Detailhandelsverbänden Rücksprache gehalten. Die Onlinekonkurrenz hat während der Pandemie massiv zugenommen. Daher sehen auch sie die Notwendigkeit, die Geschäfte dann zu öffnen, wenn die Kunden Zeit haben.

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Im Detailhandel arbeiten vor allem Frauen. Wenn sie nun auch am Sonntag hinter der Theke stehen, geht das auf Kosten der Familienzeit.
Gemäss einer Umfrage des Zürcher Flughafens ist der Sonntag bei Teilzeitmitarbeitenden ein sehr beliebter Arbeitstag. Weil der andere Elternteil, oft der Mann, die Kinder betreuen kann. Ausserdem gibt es 25 Prozent mehr Lohn, was manchen Familien durchaus entgegenkommt. Am unbeliebtesten ist übrigens der Samstagnachmittag. Es ist auch nicht so, dass die Leute am Montag weniger einkaufen, weil sie am Sonntag shoppen können. Die Konkurrenz für den Detailhandel heisst nicht Sonntag gegen Montag. Sondern Milano oder Paris gegen Zürich.

Offene Läden am Sonntag würden aber auch mehr Lärm, mehr Verkehr, mehr Konsum verursachen. Das widerspricht dem aktuellen Nachhaltigkeitstrend.
Der Tourismus belastet die Umwelt, ja. Aber die Leute wollen nun mal reisen, Neues erleben und interessante Begegnungen machen. Und wenn das so ist, dann lieber dort, wo es nachhaltiger möglich ist als an anderen Orten. In Zürich zum Beispiel. Der öffentliche Verkehr ist hier sehr gut ausgebaut, im Zentrum befindet sich vieles in Gehdistanz. Machen mehr Leute mehr Lärm? Wahrscheinlich schon. Aber wenns keinen Lärm gibt, läuft auch nichts. Das haben wir ja während des Lockdown gesehen.

«So restriktiv, wie wir den Datenschutz in der Schweiz praktizieren, ist er für die Innovation im Tourismus oft hinderlich.»

Was passiert nun mit dem Vorstoss?
In den nächsten Tagen werden wir uns in einem Brief an den Bundesrat wenden.

Die Chance ist gross, dass der Bundesrat den Brief unbeantwortet lässt. Und dann?
Die beteiligten Kantone könnten eine Standesinitiative lancieren, dann müsste der Bundesrat den Vorstoss behandeln. Aber ich bin kein Politiker. Zürich Tourismus möchte primär die Diskussion um liberalere Rahmenbedingungen anstossen.

Zürich Tourismus in Zahlen:
- 22 Millionen Franken beträgt das Budget von Zürich Tourismus. Sechs Prozent davon steuern die Stadt und der Kanton bei. Für 2020 bis 2022 kommen knapp zwölf Millionen Franken Corona-Hilfsgelder hinzu.
- 6,5 Millionen Logiernächte verzeichnete die Ferienregion Zürich 2019. Letztes Jahr waren es pandemiebedingt rund 50 Prozent weniger.
- 64 000 Personen sind in der Stadt und im Kanton Zürich unmittelbar oder mittelbar im Tourismussektor beschäftigt.
- 67 Prozent der Zürcher Touristen reisten vor der Pandemie aus dem Ausland an. Die meisten aus Deutschland und den USA. Letztes Jahr kam fast die Hälfte der Gäste aus der Schweiz.

Digitalisierung ist die nächste grosse Herausforderung für den Tourismus. Sie sind gerade daran, eine neue Zürich App zu lancieren. Was ist geplant?
Wir haben bereits seit einigen Jahren eine digitale Gästekarte, die in der Zürich City Guide App integriert ist. Nun aber soll die App nicht mehr nur über Museen, Restaurants oder Ausflüge informieren. Wenn wir up to date bleiben wollen, müssen die Gäste entsprechende Angebote auch direkt über die App buchen können. Zudem werden wir Push-Nachrichten mit Informationen verschicken, die Gäste interessieren könnten.

Zum Beispiel?
Bei Regen werden wir über Schlechtwetteralternativen informieren und den Usern Vorschläge aufgrund von Vorlieben und bisherigen Buchungen machen. Inwieweit wir das Nutzererlebnis in der App personalisieren können, wird sich zeigen.

Aus Datenschutzgründen?
Genau. So restriktiv, wie wir den Datenschutz in der Schweiz praktizieren, ist er für die Innovation im Tourismus oft hinderlich. Ich möchte natürlich keine chinesischen Verhältnisse, aber wir sollten gemeinsam mit dem Datenschützer ausloten, wo Liberalisierungen sinnvoll wären.

Wo denn?
Wenn wir Touristen individuell betreuen wollen, müssen verschiedene Anbieter wie die Hotellerie, der öffentliche Verkehr, Flughäfen und Tourismusorganisationen Daten untereinander austauschen können. Das ist derzeit nicht möglich. Sehen Sie, in Amsterdam kann die Tourismus-App zum Beispiel feststellen, dass ich gerade in einer 45 Minuten langen Schlange vor dem Rijksmuseum stehe, und sie schlägt mir vor, ins Van-Gogh-Museum um die Ecke zu gehen, falls ich nicht so lange warten mag. Das ist doch genial.

Welche personalisierten Angebote schweben Ihnen für Zürich vor?
Wir möchten die Gäste schon am Flughafen erreichen, indem wir sie über die App willkommen heissen. Wenn wir sie danach optimal betreuen wollen, müssen wir unsere Gäste kennen. Wir müssen also aufgrund ihrer Daten analysieren können, was sie interessiert – und das ist bei Familien, Paaren, jüngeren und älteren Touristen sehr unterschiedlich. Für Paare oder Singles könnte es zum Beispiel spannend sein, dass man in der Frauenbadi nicht nur schwimmen, sondern am Abend auch tanzen kann. Bei Familien hingegen werden wir mit dieser Info kaum punkten. Wir möchten den Gästen massgeschneiderte Tipps liefern, die sie in einem Reisekatalog eben nicht finden. Das gelingt uns aus Datenschutzgründen allerdings nur bedingt.

«Nach über 30 Jahren in der Branche weiss ich: Genug Gäste und genug Mitarbeitende sind eine absolute Ausnahmeerscheinung.»

Sie haben in einem Positionspapier erwähnt, dass Zürich wieder eine Attraktion wie den umstrittenen Hafenkran von 2014 brauchte, damit Touristen nach der Pandemie hierherströmten. Haben Sie etwas in petto?
Wir haben einiges diskutiert, darunter auch nicht bewilligbare Attraktionen wie einen Hochweg über den Dächern von Zürich. Derzeit denken wir über eine Fotoausstellung im öffentlichen Raum nach. Spruchreif ist allerdings noch nichts. Aber: Sollte der Tourismus tatsächlich bald wieder anziehen, müssen wir uns vielmehr die Frage stellen, wie wir die Nachfrage in Zeiten des akuten Fachkräftemangels bewältigen.

Wo sehen Sie Lösungsansätze?
Nach über 30 Jahren in der Branche weiss ich: Genug Gäste und genug Mitarbeitende sind eine absolute Ausnahmeerscheinung. Etwas fehlt immer. Wir müssen uns deshalb gut überlegen, wie wir als Branche nachhaltig werden. Mitarbeitende brauchen Sinnhaftigkeit, sie möchten von ihren Vorgesetzten motiviert und geführt werden, gleichzeitig muss auch der Betrieb wirtschaftlich organisiert sein. Und da gibt es einige, die mit solchen Aufgaben überfordert sind. Das heisst, auch die Führungspersonen müssten sich weiterbilden, sonst werden sie es künftig nicht schaffen.



Offene Läden am Sonntag in Tourismuszonen

Was in St. Moritz oder Zermatt bereits Alltag ist, soll auch in Zürich oder in Genf möglich sein: Die Geschäfte im Zentrum sollen auch am Sonntag öffnen dürfen. Dies fordern die für die Volkswirtschaft zuständigen Regierungsmitglieder der Kantone Zürich, Luzern und Tessin in einem gemeinsamen «Vorstoss zur Wiederbelebung des Städtetourismus». Unterstützt werden sie dabei von den Organisationen Zürich und Genf Tourismus.

Das Ziel des gemeinsamen Vorstosses: Die Verordnung zum Arbeitsgesetz soll auf Bundesebene angepasst werden, damit auch in Städten Tourismuszonen eingerichtet werden können, wie dies in den meisten Bergkantonen heute schon der Fall ist. Die Verordnung erlaubt nämlich Ausnahmen beim Sonntagsarbeitsverbot in Fremdenverkehrsgebieten, die erheblichen saisonalen Schwankungen unterliegen. Solche Ausnahmen betreffen vor allem alpine Destinationen, aber auch die Tessiner Ortschaften Bellinzona, Locarno oder Lugano wenden die Fremdenverkehrsklausel an.

Die Volkswirtschaftsdirektionen und die Vertreter der Tourismusbranche appellieren nun an den Bundesrat, für alle gleich lange Spiesse zu schaffen. Sprich: Grössere Städte sollen Tourismuszonen definieren dürfen, in denen die Geschäfte am Sonntag geöffnet sind. Betrachtet man die aktuelle Situation der fünf grössten Schweizer Städte, so hat lediglich Lausanne-Ouchy im Sommer am Sonntag geöffnet. Im Zentrum von Zürich, Basel, Bern und Genf ist der Sonntag «Ruhetag».