Als Kind nannten sie ihn im Dorf den «Schattebueb». Reto Invernizzi, gross gewachsen, als Gastgeber so schwungvoll wie gelassen, erwähnt dies nur nebenbei. Von Dezember bis Ende Februar falle selbst tagsüber kein direkter Sonnenstrahl auf das Hotel Kemmeriboden Bad.

An einem prachtvollen Frühlingstag ist von alledem nichts zu sehen. Schmuck, hell und frisch herausgeputzt wirkt das Gebäudeensemble aus historischem Hauptgebäude, Stöckli, früherem Käsespeicher und ehemaligem Bauernhof. Autos mit Nummernschildern aus diversen Kantonen stehen auf dem Parkplatz. Gäste, die nicht reserviert haben, hoffen kurz vor Mittag am Eingang zum Terrassenrestaurant auf einen freien Platz unter den Sonnenschirmen. Eine gedeckte Holzbrücke führt über die Emme, hoch ragen Felswände auf zwei Seiten auf. Eine Felsspitze vor blauem Himmel verleiht der Szenerie einen Hauch von Wildem Westen.

Kein Mann der Welt würde sie dazu bringen, hier zu wohnen
Als Alexandra Invernizzi 2009 erstmals zusammen mit einer Kollegin im Postauto über die gewundene Strasse durch Wiese und Wald zu dem entlegenen Landgasthof bei Schangnau im Oberen Emmental kam, fragte sie sich, wie die Kollegin in dieser Gegend wohnen konnte. Damals erwog sie, nach Zürich zu ziehen. Sie war sich sicher: Kein Mann der Welt würde sie jemals dazu bringen, dorthin aufs Land zu ziehen. Dass sich Reto (40) und Alexandra (39) Invernizzi kennenlernten, hat indirekt auch mit dem Schatten zu tun. Um den Spott der Dorfkinder über die Lage des Kemmeriboden Bad kümmerte sich Reto Invernizzi schon als Kind wenig. Mochte der Spitzname doch teils auch dem Erfolg des florierenden Betriebs geschuldet sein, den seine Eltern in 5. Generation führten – am «Anfang der Welt», wie Reto Invernizzi in Anspielung auf den nahen Ursprung der Emme scherzhaft sagt.

Mit Wertschätzung über Beruf und Branche geredet
Aus der Art, wie die Eltern nach Feierabend über den Betrieb und die Hotellerie redeten, sprach Wertschätzung und Begeisterung. Und das habe ihn geprägt, sagt Invernizzi. Als sie ihn fragten, ob er den Betrieb übernehmen wolle, freute er sich sehr, war sich aber auch der Verantwortung bewusst, die damit einhergehen würde. So ging er zunächst nach Kanada und in die USA zur Weiterbildung. Ausserhalb der elterlichen Sphäre stellte er sich die Schlüsselfrage: Würdest du den Betrieb auch übernehmen, wenn es nicht jener der Eltern wäre?

Herz und Kopf sagten Ja. Und auch das Glück in der Liebe spielte mit. Reto und Alexandra übernahmen den Betrieb 2010 und heirateten 2013. Schon früher hatten stets Ehepaare das Hotel geführt (siehe Kasten). Mit Reto und Alexandra Invernizzis Töchtern Lynn und Anina könnte dereinst eine weitere Generation das Mehrgenerationenwerk fortsetzen.

Wie auf dem Kemmeriboden aus der Alp ein Bad wurde
Bis Ende des 18. Jahrhunderts wird der Kemmeriboden für die Alp- und Forstwirtschaft genutzt. Zwei Herren, deren Name nicht überliefert ist, beginnen nach Wasser als Quelle zu suchen, um das damals wertvolle Salz zu gewinnen. Eine Quelle kommt tatsächlich zum Vorschein, doch statt Salz enthält das Wasser Schwefel und Eisen.
Ab Anfang des 19. Jahrhunderts wird die Kemmeribodenalp zu Kemmeriboden Bad – ein Gastwirtschaftsbetrieb mit Heilbad entsteht.
1841 kauft Ulrich Gerber den Betrieb. Sein Sohn Christian Gerber übernimmt ab 1843 und führt das «Bedli» während 30 Jahren. Bei seinem Tod 1873 erhält es der jüngste Sohn. Samuel und seine Frau Elisabeth («Lysebeth») Gerber bauen den Betrieb aus. Das Kemmeriboden Bad wird national bekannt. Künstler, Dichter und andere Persönlichkeiten sind zu Gast. Simon Gfellers Roman «Eichbüehlersch» spielt mehrheitlich im Bad.
Nach Samuel Gerbers Tod übernehmen ab 1909 die Söhne Christian und Friedrich zusammen mit ihren Frauen Rosa und Rosa (zur Unterscheidung «Rösi» und «Rosa» genannt), zwei früheren Serviertöchtern. Die verwitwete Lysebeth arbeitet weiterhin mit. 1918 beziehungsweise 1925 sterben die beiden Männer an der Spanischen Grippe.
1945 übernimmt Hans Gerber, Sohn von Rosa und Christian Gerber, mit Elisabeth (genannt Elisabeth II.) den Betrieb.
Deren Tochter Elisabeth (genannt Elisabeth III.) übernimmt ab 1976 zusammen mit ihrem Mann Heiner Invernizzi. Dieser kommt aus dem Baufach und hat somit ein Gespür für bauliche Massnahmen. Er lässt sich zusätzlich in Gastronomie ausbilden. Die beiden stellen den Badebetrieb 1988 endgültig ein.
Hotelwebsite

Für Alexandra Invernizzi änderte die Liebe einiges. «Ich wuchs langsam hinein», erzählt die Tourismusfachfrau und frühere Mitarbeiterin von Mittelland Tourismus. Sie kümmert sich um die Administration, die Réception und um das Personelle. Bei 65 Mitarbeitenden, davon 15 Lernende, sei dies ein bedeutender Aufgabenposten. «Wir haben zum Glück kaum Schwierigkeiten, unsere Stellen zu besetzen.» Und: «Die Jungen sind interessiert und finden die Branche toll.» Überzeugen müsse man wenn schon die Eltern und Lehrpersonen, die den Kindern immer wieder eher abrieten.

Der Branche und deren Image Sorge tragen
Es liege aber auch in der Verantwortung der Betriebe, der Branche und deren Image Sorge zu tragen. Dies unter anderem, indem sie sich als Lehrbetriebe in der Ausbildung des Nachwuchses engagierten. «Kaderpositionen besetzen wir ausschliesslich mit Personen, die eine Affinität haben für die Ausbildung von Lernenden», sagt Reto Invernizzi.
Zufriedene, kompetente Mitarbeitende sind das eine. Zum Erfolg trägt aber auch eine geschickte Vermarktung der Nähe zur Natur, zur Region und von Ursprünglichkeit bei. So spielt sich unter anderem die jährliche Viehschau direkt vor der Haustür ab, das Hotelpersonal kauft Produkte teils direkt ab Hof. 

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«Grösstes Hotelzimmer» im Emmental lanciert
Und das Paar hat die Auslastung optimiert, so etwa durch Kooperationen. Ein Schlafberater stellt exklusive Betten und Decken für die Outdoorsuite «Schlafen im Garten Deluxe» und andere Zimmer zur Verfügung, Kundinnen und Kunden des Beraters dürfen im Kemmeriboden Bad gratis probehalber übernachten. Die Zimmer wiederum offeriert das Hotel, das dem Verein «Best 3 Star Hotels of Switzerland» angehört, dem Schlafberater zum Vorzugspreis.

In den letzten Jahren hat das Ehepaar Invernizzi denn auch immer wieder Neuheiten eingeführt, die zum Teil noch besser funktionierten als erwartet. So etwa das «Schlafen im Stroh Deluxe» – eine Koketterie mit allen Annehmlichkeiten der Hotellerie. Zunächst habe man «das grösste Hotelzimmer im Emmental» im Heuboden des ehemaligen Stalls primär aus Marketinggründen lanciert. Dann aber sei es gelungen, durch Kunstvernissagen zwischen Check-in und Check-out die Hotelgäste beiläufig auf das Zimmer aufmerksam zu machen. «Heute haben wir eine Auslastung von gegen 98 Prozent», sagt Alexandra Invernizzi.
Und ebenso erfolgreich entwickelte sich die Idee mit den Iglus. Am Anfang stand der Gedanke, den Nachteil der schattigen Lage in einen Vorteil zu verwandeln. Iglus als Gastro- und Hotelkonzept hatte Reto Invernizzi in Kanada kennengelernt. Das wars: Dank dem Schatten würden die Schneehäuser bei Tauwetter auf nur 976 Metern über Meer nicht gleich dahinschmelzen.

Überalterung abgefedert
Innerhalb von vier Jahren wurde aus der guten Idee ein ausgereiftes Produkt. Auslastung: 90 Prozent. Mit den Iglus sei es zudem gelungen, eine gewisse Überalterung unter den Gästen aufzufangen. Diese Kundschaft kehre oftmals auch im Sommer nach Schangnau zurück.

Reto Invernizzi spricht von einem «Wintermärchen» – einem Erlebnis für die Sinne. «Da es früh dunkel wird, können wir mit dem Licht arbeiten. Es gibt Feuer, und wir verbrauchen eine Menge Holz. Zum Glück haben wir auch Waldbesitz», sagt Invernizzi. Zwischen Ende Dezember und Mitte März rieche es jeweils nach hausgemachtem Glühwein und «Brätzeli». Eines der Iglus dient als Restaurant.

Das Iglu-Restaurant war es, das Alexandra Invernizzi und ihre Kollegin an jenem schicksalhaften Abend nach Kemmeriboden Bad geführt hatte. Die Kollegin war damals im Betrieb angestellt, über sie lernte Alexandra vor Ort Reto kennen. «Ich habe das grosse Los gezogen», sagt Reto Invernizzi heute über seine Frau. «Eigentlich wollte ich immer schon ein Hotel führen», sagt Alexandra Invernizzi und lacht. Zwar lag das Hotel ihrer früheren Träume am Meer. Doch welche Rolle spielen solche Details noch, wenn man die grosse Liebe gefunden hat?


Hoteliers des Jahres 2022

«Am Ende der Welt» erfolgreich
Die Fachjury der Gala «Hotelier des Jahres» am Hospitaltity Summit begründet ihren Entscheid wie folgt. «Mit Alexandra und Reto Invernizzi gewinnen passionierte Hoteliers einer Familiendynastie die Auszeichnung. Die stetigen Innovationen, welche den Betrieb in der Emmentaler Idylle einzigartig machen, kommen nicht von ungefähr. Die Gewinner beweisen, dass man auch 'am Ende der Welt', abseits der grossen Touristenströme, ein innovatives, klar positioniertes 3-Sterne-Hotel mit grossem Erfolg betreiben kann. Bewundernswert, wie die Hoteliers es schaffen, regionale Produzenten und Partner für ihr Hotel und ihre Ideen zu gewinnen. Das Iglu-Dorf im Winter, die aufwändig gestalteten Spezialzimmer oder der Merängge-Kult sind Beispiele, welche die Innovationskraft des Hoteliers eindrücklich belegen. Last but not least gilt es auch das besondere Engagement der Hoteliers im Bereich der Berufsbildung zu unterstreichen.»[RELATED]

Das Hotelier-Ehepaar Invernizzi erhielt die Auszeichnung an der 7. Austragung der Hoteliergala im Rahmen des zweiten Hospitality Summit. Mit der Auszeichnung «Hotelier des Jahres» sollen jährlich Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, welche sich innerhalb der Branche durch Erfolg, Kreativität und Innovation profiliert haben und dadurch für die nationale Hotellerie von besonderem Interesse sind. 
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