Mächtig und erhaben präsentiert sich der Eiger über Grindelwald BE. Der erste Riese des sagenhaften Berner Oberländer Dreigestirns. Scheinbar unverwüstlich.

Doch der Sommer 2022 hat an der Eigernordwand Spuren hinterlassen. Insbesondere entlang der klassischen Heckmair-Route. Die für deren Durchstieg wichtigen ersten beiden Eisfelder wurden während des Hitzesommers stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Routenabschnitt Weisse Spinne im oberen Teil der Wand war im Juli 2022 komplett weggeschmolzen. Vom 300 Meter grossen Eisschild blieben lediglich dunkle Rinnsale Schmelzwasser übrig.

Das massive zweite Eisfeld an der Eigernordwand haben wir im Sommer 2022 nicht mehr erkannt.

Roger Schäli, Profi-Bergsteiger und Botschafter Grindelwald Tourismus

«Letzten Sommer ging viel Eis verloren. Das massive, zwei Fussballfelder grosse zweite Eisfeld an der Eigernordwand haben wir nicht mehr erkannt», sagt Bergsteigerprofi Roger Schäli. Mit 56 erfolgreichen Durchstiegen ist er ein ausgewiesener Eiger-Kenner. Als solcher fungiert er auch als Botschafter für Grindelwald Tourismus. Der 44-Jährige findet klare Worte: «Es lässt sich nicht mehr schönreden: Die Berge und Gletscher in den Alpen haben letzten Sommer so sehr gelitten, dass es wehtut.»

Folgen des heissen Sommers 2022 zeigen sich erst noch
Jährlich stehen durchschnittlich über 1500 Menschen auf dem 3967 Meter hohen Eiger. Die meisten von ihnen erklimmen ihn über den östlich gelegenen Mittellegigrat. Die Eigernordwand ist die schwierigere Klettervariante. Die berüchtigte Wand zählt zusammen mit den Grandes Jorasses im Montblanc-Massiv und dem Matterhorn zu den schwierigsten Nordwänden im Alpenraum.

Jeweils ab Februar reisen Bergsportler aus aller Welt nach Grindelwald und wagen sich von der Station Eigergletscher aus an die 3,5 Kilometer lange Heckmair-Nordwand-Route. Der Zeitpunkt für eine Tour ist im Spätwinter normalerweise ideal: Schönwetterphasen setzen ein, die Tage werden länger. Bis anhin stimmten auch die Schnee- und Eisverhältnisse am Berg. Nach dem letzten Hitzesommer und dem bisherigen milden Winterverlauf sind die Bedingungen für die Nordwand-Saison 2023 aber schwierig vorherzusagen. Denn gemäss WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos GR dringen die Temperaturänderungen mit zunehmender Oberflächentiefe immer langsamer ein. Die Hitze des vergangenen Sommers wird die tieferen Bodenschichten und damit den Permafrost also erst in den kommenden Wochen oder Monaten erreichen.

Ausaperung und steigende Permafrostgrenze erschweren eine Begehung.

Rolf Sägesser, Fachleiter Ausbildung Sommer Schweizer Alpen-Club (SAC)

Nordwand-Touren werden vermehrt unberechenbar
Permafrost sind Böden, Felswände, Schutt oder Moränen, die während mindestens zweier Jahre konstant gefroren sind. Aufgrund des Klimawandels taut der Permafrost in den Alpen immer tiefer im Boden auf. Es kommt zu Steinschlägen oder Murgängen. Die Nordwände sind vermehrt betroffen. Aufgrund der geringen Sonneneinstrahlung kommt Permafrost dort bereits ab niedrigen Lagen vor.

Noch in den 80er-Jahren kletterte man die Eigernordwand vorwiegend im Sommer. Heute ist dies für viele Bergführer nicht mehr verantwortbar. Zu hoch sind die objektiven Gefahren, welche vom Berg ausgehen. Nicht nur an der Nordwand, sondern generell auf Hochgebirgstouren. Roger Schäli warnt: «In den wärmeren Jahreszeiten wird Bergsteigen generell heikler.»

Dies bestätigt auch Rolf Sägesser, Fachleiter Ausbildung Sommer beim Schweizer Alpen-Club (SAC). Alpine Klettertouren müssten sehr gut und umsichtig geplant werden, oft auch mit alternativen Routen. Die jeweiligen aktuellen Verhältnisse sowie die optimale Saisonzeit seien für ein Gelingen matchentscheidend, sagt Sägesser. Und: «Auf den Touren sind ein wachsames Auge und weitsichtige sowie risikovermindernde Entscheide gefragt. Die fortschreitende Ausaperung und die steigende Permafrostgrenze erschweren eine Begehung grundsätzlich.»

Klimawandel definiert den Bergsteigersport neu
Roger Schäli will die Zukunft an der Eigernordwand nicht schwarzmalen. «Die nächsten Generationen werden kaum erleben, dass die Eigernordwand zerbröckelt, so wie beispielsweise der Dru im französischen Chamonix. Solange wir noch kalte Winter haben und die Temperaturen nicht allzu sehr durcheinandergeraten, bleibt die Heckmair-Route kletterbar.»

Als Bergsteigerprofi beobachtet er seit 20 Jahren den Klimawandel auf der ganzen Welt. Dabei stellt er nicht nur Veränderungen am Gebirgsgelände fest. Auch Diskussionen um die Kletterethik nehmen zu. Beispielsweise gewinnt die Debatte um die umstrittenen Bohrhaken am Kletterfelsen an Brisanz. Die einen, darunter auch Schäli, sehen den Berg am liebsten in seinem Originalzustand. Eine natürliche Herausforderung, wie sie die Pioniere gemeistert haben. Für die anderen sind Bohrhaken als Sicherungshilfe am unstabilen Felsen in Zeiten des tauenden Permafrosts unentbehrlich.

Solche Grundsatzdiskussionen führen laut Schäli längerfristig zu einer Neudefinition des Bergsteigersports. Mit Blick auf die schwindenden Eisfelder an der Eigernordwand wagt er bereits ein mögliches Zukunftsszenario: «Alpinistinnen und Alpinisten werden auf winterlichen Hochgebirgstouren öfter mal mit Kletterfinken statt mit Eispickel und Steigeisen unterwegs sein.»

Nora Devenish