Die seit Jahren rückläufigen Lernendenzahlen in den meisten Branchenberufen zeigen nun ihre Auswirkungen auf der nächsthöheren Bildungsstufe: Auch an den Höheren Fachschulen gehen gemäss Bundesamt für Statistik die Abschlüsse zurück. Das Gastgewerbe ist zwar nicht die einzige Branche, die mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen hat. Aber es trifft die Hotellerie und Gastronomie in einem Ausmass, das selbst Experten so nicht haben kommen sehen.

Was dagegen tun? Antworten auf diese Frage sind dringend, denn einerseits sind die vielerorts fehlenden Mitarbeitenden viel diskutiertes Thema in der Branche. Und andererseits haben wirkliche Veränderungen in der komplexen Schweizer Bildungssystematik eine lange Vorlaufzeit. Was heute eingeleitet wird, hat frühestens übermorgen eine spürbare Auswirkung auf den Bildungs- und Arbeitsmarkt.

Sowohl Carole Ackermann, Präsidentin des Stiftungs- und Verwaltungsrates der EHL Group, als auch Andreas Züllig, Präsident von HotellerieSuisse, ziehen in den jeweiligen Interviews einen Vergleich zwischen der heutigen Situation und derjenigen von 1893, als Jacques Tschumi mit weitsichtigem Mut die Ecole hôtelière de Lausanne gegründet hat. Die Veränderungen, die der Bildungslandschaft bevorstehen, beurteilen die beiden als umfassend.

Was heute eingeleitet wird, hat frühestens übermorgen eine spürbare Auswirkung auf den Bildungsmarkt.

Denn für die unterschiedlichen Bildungsangebote in der Beherbergungsbranche gibt es heute viele Anbieter, die ihr Angebot weitgehend isoliert erbringen. Dies ist auch im Netzwerk der Organisationen von HotellerieSuisse der Fall. Die EHL Group mit der EHL Hospitality Business School und der EHL Hotelfachschule Passugg, die Hotelfachschule Thun sowie der Verband sind alle Anbieter von Grund- und Weiterbildungen, bieten ihre Angebote jedoch praktisch voneinander losgelöst an. Bildungskunden verlangten heute aber eine Durchlässigkeit an anschlussfähigen Angeboten, die auf lebenslanges Lernen ausgerichtet sind. Davon ist Philipp Näpflin, Präsident der Hotelfachschule Thun, überzeugt. Carole Ackermann sagt, die Konstellationen im Bildungsmarkt, die Ansprüche und die Mobilität der Bildungskunden veränderten sich weltweit gerade in hohem Tempo.

Auf diese Veränderungen adäquat zu reagieren, sieht Andreas Züllig als Chance und Pflicht zugleich. Ackermann, Näpflin und Züllig legen im Gespräch dar, wie eine intensivierte Zusammenarbeit der drei genannten Institutionen die veränderten Kundenbedürfnisse künftig aufnehmen soll. In den kommenden zwei Jahren sollen beispielsweise in mehreren Etappen die Bildungsangebote durchlässig gestaltet werden. Zudem sollen neue, innovative Aus- und Weiterbildungsangebote dieser Gruppe auf den Markt kommen. In einem ersten Schritt wird ab 1. August 2023 die operative Verantwortung für die Bildungsangebote von HotellerieSuisse (Schulhotels, Weiterbildungsangebote) an die Hotelfachschule Thun übergeben.
 

Andreas Züllig

Herr Züllig, der Verband trennt sich nach über 50 Jahren von den Schulhotels, und auch das NDS kommt in neue Hände. Was bewegt Sie in Zeiten des Fachkräftemangels zu diesem Schritt? [IMG 2]
Ich muss etwas ausholen: Jacques Tschumi, damals Verbandsleitungsmitglied des Schweizer Hotelier-Vereins, hat 1893 die Ecole hôtelière de Lausanne gegründet, als die Hotelbetriebe verzweifelt ausgebildete Mitarbeitende suchten und kaum fanden. Tschumi hat bereits damals erkannt, dass die Branche selbst in der Pflicht steht, Mitarbeitende auszubilden. Wir stehen knapp 130 Jahr später wieder vor einem entscheidenden Schritt: Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt und wollen die Weichen für die Zukunft der Aus- und Weiterbildung in unserer Branche neu stellen. Indem wir von der Grundbildung bis zum Master das Bildungsangebot der ganzen HotellerieSuisse-Familie bündeln und durchlässig gestalten wollen, kreieren wir eine einzigartige Bildungsinstitution. Aus Ihrer Frage möchte ich das Verb «trennen» aufnehmen: HotellerieSuisse stellt die Mehrheit der Stiftungsrätinnen und -räte der EHL sowie deren Präsidentin. Von trennen kann deshalb keine Rede sein. Wir sind seit Gründung der EHL an ihrer strategischen Steuerung beteiligt. Daran wird sich auch nichts ändern. Einzig die operative Führung der Bildungsangebote möchten wir an die dafür bestens qualifizierte Institution übergeben.

Der Fachkräftemangel im Gastgewerbe stellt Betriebe vor grosse Schwierigkeiten. Die Lernendenzahlen in der Branche lassen zudem nur wenig Hoffnung auf Besserung zu. Ist dieses Projekt die richtige Lösung für das Problem?
Wir als Arbeitgebende sind gefordert, potenzielle Mitarbeitende jeden Alters für die Branche zu begeistern. Wenn wir bei den Jungen ansetzen wollen, ist es wichtig, ihnen und ihrer Umgebung Perspektiven für Entwicklung aufzuzeigen. Dies schaffen wir, indem wir den Jugendlichen einen Bildungsweg aus einem Guss und aus einer Hand bieten können. Dazu braucht es neben den bestehenden Angeboten eine verlässliche Durchlässigkeit und ein abgestuftes Weiterbildungsangebot. Mit der weiterhin engen Zusammenarbeit mit der EHL Group, die wir nun um den Bereich Schulhotels und NDS ergänzen wollen, schaffen wir genau das. Dabei können wir künftig noch stärker vom schweizweiten und internationalen Renommee der EHL profitieren.

Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt und wollen die Weichen für die Zukunft der Aus- und Weiterbildung in unserer Branche neu stellen.

Was macht denn der Verband HotellerieSuisse in der Bildung noch?
Der Verband nimmt nach wie vor seine Verantwortung in der Bildung wahr. Neben dem Einsitz im obersten Führungsgremium der EHL Group behält HotellerieSuisse die Rolle der Organisation der Arbeitswelt (OdA). Diese Aufgabe ist dem Verband von Gesetzes wegen zugewiesen, kann und soll also nicht delegiert werden. Wir sind zudem nach wie vor Träger der Hotel & Gastro Formation Schweiz und dort mit zwei Personen im Vorstand vertreten. Auch engagieren wir uns weiterhin auf politischer Ebene für Bildungsanliegen aller Stufen. Und wir unterstützen die Lehrbetriebe in Ausbildungsfragen. Derzeit läuft ein Pilotversuch in der Region Zentralschweiz, der ein digitales Angebot für Lehrbetriebe testet, das später national ausgerollt werden soll.

HotellerieSuisse muss wegen dieses Zusammenschlusses die Mitgliederbeiträge erhöhen. Wie rechtfertigt sich dies gerade zum jetzigen Zeitpunkt?
Ich weiss, dass eine Beitragserhöhung für viele Betriebe nicht einfach zu verdauen ist, und wir sind uns bewusst, dass damit auch Verantwortung verbunden ist. Genau diese wollen wir wahrnehmen, indem wir in die Zukunft investieren. Wir tun dies in einem Bereich, der für die Betriebe einen absoluten Schlüsselfaktor darstellt: der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften. Die EHL Group verfügt mit der EHL Hospitality Business School über eine Bildungsinstitution mit exzellentem Ruf, verschiedene internationale Rankings sehen sie als beste Hotelfachschule der Welt. Es ist ein Glück für uns, hat die EHL den Lead bei der Zusammenführung der verschiedenen Bildungsanbieter der HotellerieSuisse-Familie übernommen. Wir ermöglichen also mit dem etwas höheren Beitrag ein qualitativ hochwertiges Angebot unseres Verbandes an Dienstleistungen, die jedem Betrieb einen direkten Nutzen bringen.

Carole Ackermann

Frau Ackermann, Sie präsidieren mit der EHL bislang eine Fachhochschule, die auf die akademische Bildung ausgerichtet ist. Nun wagen Sie sich in die berufliche Bildung vor. Passt dies zusammen? [IMG 3]
Ja, sehr, so sind wir auch vor 129 Jahren mit Jacques Tschumi gestartet, wo die Grundsteine der Berufsbildung der heutigen Fachhochschule EHL, Hospitality Business School, gelegt wurden. Und seit 2013 gehört zur EHL Group auch die EHL Hotelfachschule Passugg (EHL Swiss School of Tourism and Hospitality), welche die berufliche Grundbildung der Hotel-Kommunikationsfachleute EFZ und die Ausbildung in der Hotellerie-Gastronomie auf Stufe Höhere Fachschule sowie diverse Kurzkurse zur Weiterbildung anbietet. Wir sind also bereits seit langem auch in diesem Segment des Schweizer Berufsbildungssystems tätig und werden diesen wichtigen Bereich auch weiter stärken. International verändert sich die Bildungslandschaft derzeit in rasantem Tempo, und die Mobilität von Studierenden und ihre Ansprüche nehmen stetig zu. Wenn wir unsere führende Position behalten wollen, müssen wir die ganze Klaviatur an Bildungsangeboten on- und offline anbieten. Mit dem im letzten Jahr eröffneten Campus in Singapur haben wir einen weiteren Schritt zur Abdeckung verschiedenster Bildungsformate getan.

Was kann die EHL Group denn bieten, um dem Fachkräftemangel in der Schweiz entgegenzuwirken?
Wir leisten einen ständigen Beitrag zur Weiterentwicklung des schulischen Angebots auf den diversen Stufen der beruflichen und akademischen Bildung. Die verschiedenen Ausbildungsmodelle in der Grundbildung – sei es Blockkurs oder schulisch organisierte Grundbildung – sind hier Beispiele. Zudem wollen wir künftig noch stärker bei den Weiterbildungen ansetzen. So können wir die Branche dabei unterstützen, den Mitarbeitenden Perspektiven aufzuzeigen, damit diese ihr Potenzial weiterentwickeln und entfalten können. Ein erstes Angebot, das in Zusammenarbeit mit HotellerieSuisse entstanden ist, wird diesen Herbst lanciert. Wir freuen uns darauf, künftig weitere solche Formate auf den Markt zu bringen. Das wollen wir in engem Austausch mit der Branche machen und die Angebote klar am Bedürfnis des Marktes ausrichten. Uns ist sehr bewusst, in Lausanne, Passugg und Singapur können wir den Anstoss geben, die Umsetzung erfolgt aber in der Praxis.

Wir wollen die Branche dabei unterstützen, den Mitarbeitenden Perspektiven aufzuzeigen, damit diese ihr Potenzial stets weiterentwickeln und entfalten können.

Wie sehen Sie die Zukunft der Bildung in der Branche in unserem Land?
Der Faktor Mensch wird auch in der Bildung noch viel stärker ins Zentrum rücken. Während selbstverständlich auch im Gastgewerbe die Technologisierung voranschreitet, bleibt der Kern des Angebots eine Dienstleistung von Menschen für Menschen. Hier sehen wir die grossen Chancen der Aus- und Weiterbildung im Dienstleistungssektor: Leadership muss sich stark entwickeln und dabei die Vorteile der digitalisierten Welt nutzen. Dabei wird natürlich das digitale Angebot an Bedeutung gewinnen. Kürzere Formate werden damit möglich, wobei diese selbstverständlich weiterhin einen hohen Praxisbezug aufweisen müssen.

Sie haben den Faktor Mensch und damit verbunden das Thema Leadership angesprochen. Wie kann sich die EHL künftig auf der Grundbildungsstufe – also bei den Berufslehren – zu diesen Themen eingeben?
Indem wir weiterhin in der beruflichen Grundbildung an allen drei Lernorten – in Schule, Betrieb und überbetrieblichen Kursen – exzellent arbeiten. Wir möchten unseren Beitrag dazu leisten können, dass gewisse Themen schon früh im Unterricht Beachtung finden. Auf den weiteren Stufen der Aus- und Weiterbildung kann dieser Faden dann aufgenommen werden. Ein solches Thema ist eben Leadership. Das bedeutet nicht, dass aus jeder und jedem Lernenden unbedingt eine Hoteldirektorin oder ein -direktor werden muss. Aber wir müssen daran arbeiten, dass junge Leute früh ein Verständnis für das Thema Führung entwickeln und dass diejenigen, die das wollen, auf ihrem weiteren Weg das notwendige Rüstzeug erhalten. Der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser, also unvorbereitet Führungsaufgaben übernehmen zu müssen, sollte der Vergangenheit angehören. Die stufengerechte Auseinandersetzung mit dem Thema Führung ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass viele Inhalte aufbauend vermittelt werden müssen.

Philipp Näpflin

Herr Näpflin, die Hotelfachschule Thun hat im vergangenen Jahr ihr 35-jähriges Bestehen gefeiert. Nun wird unter dem Lead der EHL Group eine intensivere Zusammenarbeit angestrebt. Das Ende einer Geschichte naht? [IMG 4]
Ich würde es anders sagen: Ein neues Kapitel einer erfolgreichen und spannenden Geschichte beginnt! Wir haben im Stiftungsrat bereits vor einigen Jahren eine neue Strategie erarbeitet, die eine Differenzierung und gleichzeitig eine Vertiefung unseres Angebotes vorsah. So haben wir ein öffentliches Hotel errichtet, das als zusätzlicher Lernort dient. Als erste Hotelfachschule der Schweiz haben wir den berufsbegleitenden Lehrgang eingeführt. Nun kommt im August nächsten Jahres das Grund- und Weiterbildungsangebot von HotellerieSuisse zu unserem Portfolio dazu. So sind bald verschiedene Angebote der beruflichen Bildung in der Hotellerie unter unserem Dach vereint – von der Berufslehre bis zum Nachdiplomstudium. Wenn wir damit erfolgreich sind, würden wir uns freuen, wenn im Jahr 2024 die Reise mit der EHL Group weiterginge. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es mag allenfalls das Ende eines Logos sein. Gleichzeitig beginnt eine neue Ära, die den Bildungsstandort Berner Oberland und Thun nachhaltig stärken wird.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Höheren Fachschulen in der Branche?
Der Wettbewerb um Fachkräfte ist längst auch ein Wettbewerb um Studierende. Wir spüren die seit Jahren sinkenden Lernendenzahlen in der Branche direkt: Weniger Lernende bedeutet weniger Studierende auf der nächsthöheren Stufe. Hinzu kommen neue Anbieter auf dem Markt, die auch ein Diplom der Höheren Fachschule anbieten. Wir sind aber überzeugt, dass für einen guten, stets aktuellen Bildungsgang nach wie vor ein Marktpotenzial vorhanden ist. Eine enge Zusammenarbeit mit der Grundbildung ist dazu ebenso notwendig wie eine Durchlässigkeit zu anschliessenden Weiterbildungsformaten, aber auch zur akademischen Bildungswelt. Unter dem Lead der EHL werden nun genau diese Punkte adressiert und entsprechende Angebote ausgearbeitet.

Eine enge Zusammenarbeit mit der Grundbildung ist ebenso notwendig wie eine Durchlässigkeit zu anschliessenden Weiterbildungsformaten, aber auch zur akademischen Bildungswelt.

Wo sehen Sie die konkreten Vorteile für die Hotellerie im Zusammenschluss der Bildungsangebote?
Den wichtigsten Vorteil sehe ich darin, dass wir künftig den Traum des Berufswegs in der Hotellerie als Angebot unter dem Dach einer Bildungsgruppe mit Weltruf verkaufen können: Von der Berufslehre bis zur Weiterbildung für erfolgreiche Hotelièren und Hoteliers ist alles möglich. Konkret bedeutet dies, dass wir beispielsweise jungen Berufsleuten ein massgeschneidertes Aus- und Weiterbildungsangebot bieten können. Die Generation Z sieht für sich nicht nur den Weg nach oben in der klassischen Hierarchieleiter, auch Seitwärtsbewegungen sind heute eine sehr valable Option. Diesem Umstand müssen wir mit entsprechenden Weiterbildungsformaten Rechnung tragen. Ich erhalte als Hotelier also künftig ein Instrument, das es mir erlaubt, meine Mitarbeitenden bei einem einzigen Bildungsunternehmen aus- und weiterzubilden, und kann somit einen Traum verkaufen. Das hilft mir, qualifizierte und motivierte Mitarbeitende zu finden und zu halten.

Welches sind die Herausforderungen in Ihrem Alltag als Hotelier?
Wie viele Hoteliers schauen wir uns die Entwicklung des Fachkräftemangels in der Industrie genau an. Im Hotel Bären am Bundesplatz haben wir das Glück, ein vielfältiges Team von talentierten Mitarbeitenden zu haben, von denen einige seit vielen Jahren bei uns sind. Als Direktor halte ich es für wesentlich, zur stetigen Weiterentwicklung unserer Teams beizutragen, und freue mich über ein verstärktes Bildungs- und Weiterbildungsangebot. Alle Beschäftigten in der Branche – einschliesslich uns Hotelièren und Hoteliers – haben ein grosses Interesse daran, sich weiterzubilden, um den neuen Erwartungen eines sich ständig wandelnden Marktes gerecht zu werden. Weitere Herausforderungen liegen aber auch in einer nachhaltigen Entwicklung meines Betriebes, einer Diversifizierung der Angebote und Verkaufswege wie auch in der digitalen Transformation. Und nicht zu vergessen im Zeitmanagement zugunsten meines Familienlebens.

Sabine Lüthi