Bald werden die ersten schönen Frühlingstage Hotspots wie die Seerenbachfälle unterhalb von Amden oder den Steg in Iseltwald am Brienzersee an die (gefühlte) Belastungsgrenze führen. Enge wird spürbar, auch wenn der dichte Strassenverkehr zusätzlich durch die vielen Mietautos mit AI-Schildern oder die schon vollen Züge mit Touristen mit grossem Reisegepäck belastet werden. Viele bezeichnen dies dann als Overtourism.

Nach gängiger wissenschaftlicher Definition sind Touristen Personen, die sich ausserhalb ihres gewöhnlichen Lebensumfeldes bewegen und sich dort für eine begrenzte Zeit aufhalten. Diese Definition greift heute zu kurz, um den Dichtestress zu erklären. Was ist heute schon das gewöhnliche Umfeld eines postmodernen, hypervernetzten Weltbürgers? Als Illustrationsbeispiel: Offizieller Dienstort ist A. Regelmässig wird Zeit in B verbracht, wo die betagten Eltern besucht und teilweise betreut werden. Am Ort C gehen die Kinder aus der ersten Ehe zur Schule. Wohnsitz ist der verkehrsgünstig zwischen A und B gelegene Ort D. Das Herz ist am Wohnort E der neuen Partnerschaft. Zweitwohnsitz ist Freizeitort F, an dem aber auch viel im Homeoffice gearbeitet wird.

Das Beispiel mag extrem sein, aber sind nicht viele im Wochenrhythmus an anderen Standorten oder fahren jede Woche zum Zweitwohnsitz, an dem sie sich als Zweitheimische definieren? Sind sie als Teil einer Patchworkfamilie sogar regelmässig in einem anderen Land? Das gewöhnliche Umfeld ist damit immer mehr ein Netzwerk von Standorten, verbunden durch die immer bessere Verkehrsinfrastruktur.

Ausgedient hat wohl auch das traditionelle Tourismusmarketing.

Was als Tourismus erscheint, ist somit heute oft «gewöhnliche» Mobilität für Freizeit oder Besuche bei Freunden oder Familie und Ausdruck unserer modernen Lebensweise. Wenn es dann an einzelnen Freizeitorten oder im (Freizeit-)Verkehr dichter wird, ist dies nicht nur die Folge von Tourismus, sondern auch des Bevölkerungswachstums im Land.

Die mobile Lebensweise mit einem Netzwerk von Standorten fordert auch das Konzept des gesetzlichen Erstwohnsitzes heraus. Damit ist beispielsweise auch die Besteuerung an diesem einen Ort zu hinterfragen. Flexible Besteuerungsmodelle nach Aufenthaltsdauer an den einzelnen Orten würden den modernen Lebensweisen eher gerecht als neue Zweitwohnungssteuern.

Ausgedient hat wohl auch das traditionelle Tourismusmarketing, wenn der Anteil des eigentlichen Tourismus an vielen Orten eher abnimmt und dieser vielleicht gar nicht mehr wünschbar ist. Stattdessen wäre ein generelles Standortmarketing nötig, um kaufkräftige Kreise länger und für möglichst viele Aktivitäten an einen Standort zu binden. Oder müsste aufgrund der heute «gefühlten» Dichte und des starken Bevölkerungswachstums in der Schweiz sogar jegliche Standortpromotion unterlassen werden?

Thomas Bieger ist Ordinarius für BWL und Tourismus am Institut für Systemisches Management der Universität St. Gallen.