Wir können zum Zeitpunkt dieses Gesprächs davon ausgehen, dass die Bergbahnen ihren Betrieb am 8. Juni wieder aufnehmen können. Wie lange wird die Warteschlange an der Talstation der Niesenbahn in den ersten Tagen sein?

Nicht sehr lange, denn wir haben die Zeit genutzt, um unser grosses Digitalisierungsprojekt voranzutreiben. So geben wir den Gästen die Möglichkeit, ihren Ausflug auf den Niesen exklusiv zu reservieren. Wir wollen, dass möglichst wenig Gäste ohne Reservation anreisen und enttäuscht wieder von dannen ziehen müssen. Wir starten mit einem exklusiven Angebot zum Zmorge, Zmittag, Zvieri und Znacht, um die Einhaltung der allgemeinen Hygiene- und Distanzmassnahmen garantieren zu können. Die Gäste sollen die Stunden unbeschwert, sicher und eben «exklusiv» geniessen können. Parallel zur weiteren Lockerung der Massnahmen werden wir das Angebot rasch ausbauen.

Bei schönem Wetter läuft es auf einem Aussichtsberg ja fast von alleine. Wie meistern Sie die Herausforderungen bei schlechtem Wetter?

In der Tat ist das Wetter ein guter Marketing-Mitarbeiter. Aber eben nur bei «Schönwetter»! Als Ausflugsziel für übernachtende Gäste in der Region und für Tagesgäste ist es eine zentrale Aufgabe, uns auch bei «Schlechtwetter» attraktiv zu machen. Das ist sehr anspruchsvoll. Wir kommen aber nicht darum herum, uns dieser Herausforderung zu stellen. Handlungsspielraum bieten wetterunabhängige Angebote und Leistungen, welche die Kunden auch bei «Schlechtwetter» begeistern. Wobei ja eine Wolke am Himmel noch kein schlechtes Wetter ist. Als Touristiker sollten wir vorsichtig sein, dass wir das Image des schlechten Wetters nicht schlechter machen, als es wirklich ist! Hochglanz- und Blauhimmel-Kommunikation sowie Schlechtwetter-Rabatte fördern die Spitzen bei Sonnenschein. Ich denke, es braucht Mut, Wolken und Stimmungen zu zeigen und die Aufmerksamkeit auf Werte zu lenken, welche hinter der Kulisse attraktiv sind.

Urs Wohler, 55, führt seit 2017 die Niesenbahn AG im Berner Oberland. Zuvor war der eidgenössisch diplomierte Tourismusexperte und dreifache Milestone-­Gewinner unter anderem mitverantwortlich für den Aufbau der DMO Scuol-Samnaun-Val Müstair. Urs Wohler ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

Bergbahnen sind ein Massengeschäft. Wird die Corona-Krise beitragen, diese Ausrichtung zu relativieren?

Vielleicht, notgedrungen, aufgrund von Verhaltensregeln und «Mengenbeschränkungen». Es ist aber durchaus eine Chance, über die Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle nachzudenken. Was in der Übernachtungsindustrie die Logiernächte, sind bei den Bergbahnen die Frequenzen: ein rasch verfügbarer Indikator, schnell kommunizierbar und Synonym für Erfolg oder Misserfolg. Ich meine, dass es viele weitere interessante Faktoren gibt, um die Geschäftstätigkeit zu bewerten. Umsatz je Gast etwa, Relationen zwischen Aufwand und Ertrag, Investitionsfähigkeit, alle Dimensionen der Qualität, aber auch die Treue von Mitarbeitenden, die Kooperationen mit Leistungspartnern etc. Immer langfristig betrachtet natürlich. Vielleicht zeigt uns auch der Milestone die eine oder andere Lösung, wie Unternehmen mit dem Thema Qualität statt Masse oder «Qualität und die richtige Masse» umgehen!

Sie selbst haben nicht weniger als dreimal einen Milestone gewonnen. Jetzt sind Sie in der Milestone-Jury. Wie fühlt sich der Perspektivenwechsel an?

Zugegeben: zunächst etwas wehmütig! Gerade dieses Jahr hätten wir uns doch mit einer – aus unserer Sicht – Erfolg versprechenden Innovation bewerben wollen! Es wäre höchste Zeit gewesen für den nächsten Milestone! Daraus wird jetzt nichts. Dafür freue ich mich sehr auf den exklusiven Blick in die Bewerbungsdossiers. Die Bewerbungen «en détail» kennenlernen, mit dem Anforderungsprofil vor Augen eine Bewertung vornehmen, abwägen, vergleichen, sich als Jury zusammenraufen: Dieser Prozess passt mir.

Macht ein Milestone-Gewinn träge oder stachelt er zur Weiterentwicklung einer Innovation an?

Wer mal im Flow ist, kommt da nicht mehr raus! Erfolg spornt an und verpflichtet dazu, einen nächsten Schritt zu machen, weiterzudenken, neugierig zu sein, zu antizipieren. Gerade jetzt, in dieser ausserordentlichen Zeit, ist es höchst spannend, sich über die Entwicklung des eigenen Geschäftsmodells und gesellschaftliche Fragen Gedanken zu machen und Schlüsse abzuleiten. Im Interesse der Mitarbeitenden, der Gäste, der eigenen Firma, der Partner und Anspruchsgruppen, der Branche. Wer Verantwortung trägt, hat die Möglichkeit, etwas Gescheites zu «machen», als Unternehmer, als Verantwortlicher für einen Bereich. Etwas zu «unternehmen» und eben nicht zu «unterlassen». Ja, ein Milestone-Gewinn stachelt dazu an, weiterzumachen.

Wenn ich das Wort Innovation benutze, stelle ich in Gedanken immer ein Bild dazu. Was ist Ihre Strategie, um den Begriff nicht zur inhaltsleeren Floskel verkommen zu lassen?

Mein erster Gedanke ist immer: ja nicht mit «guter Idee» verwechseln! An Ideen fehlt es nie, aber an deren vollständiger Umsetzung. Erfolg beginnt zwar schon mit der Idee, umfasst dann aber alles, von der Planung über die Finanzierung und die Umsetzung bis zur Nachhaltigkeit zum Erfolg. Ich habe doch schon öfter erlebt, dass eine «gute Idee» in Kürze geboren wird, und dann sollten die Partner mitmachen, sich beteiligen, die Kassen öffnen. Innovation ist für mich «eine Geschäftsidee», etwas Cleveres, etwas Raffiniertes, etwas Grösseres oder durchaus auch Kleineres, aber weitergedacht, mit Energie, Kraft und Zukunftsglaube; auch mit Tempo, aber systematisch, taktisch und zeitlich perfekt.

Sie haben mit der Engadin-Scuol-Samnaun-Val Müstair AG erfolgreich eine Destination aufgebaut. Nun sind Sie seit drei Jahren Geschäftsführer der Niesenbahn. Wird Ihnen nicht manchmal eng auf einem einzigen Berg?

Eng auf dem Niesen? Prominent zuvorderst in der Niesenkette? Da wird es einem nicht eng. Im Gegenteil: Dies stimuliert den Weitblick und motiviert dazu, für die Mitarbeitenden, für die Unternehmung und für die Region Impulse zu setzen und die Rolle verantwortungsvoll zu spielen. Die Distanz zu meinen letzten Aufgaben hilft aber auch, die Zeit in Vals als Geschäftsführer und bei Graubünden Ferien als Teil eines für eine grosse Ferienregion verantwortlichen Teams zu reflektieren.

Woran denken Sie?

Etwa daran, dass die Grenzen der Unternehmensentwicklung immer durch die gemeinsame strategische Fähigkeit der vorgesetzten Gremien definiert sind. Das ist bei einer Bergbahngesellschaft genau gleich wie in einer Destination. In einer hierarchisch organisierten Unternehmung ist die Arbeit aber einfacher, weil die Rollen geklärt sind.

Das ist in einer Destination nicht möglich?

Doch, wenn die strategischen Verantwortlichen ihre Rollen und Aufgaben so ausführen, als ob sie eine Unternehmung führten. Häufig bestimmen eigene Interessen und fehlende zwei, drei gemeinsame Nenner die Konzentration auf das Wesentliche, auf das Positionierungs- und Differenzierungsrelevante. Dies ist kein Vorwurf, sondern das zentrale Kriterium einer Destination. Oder anders ausgedrückt: Schaffen es die verantwortlichen Strategen einer Destination, sich mittel- bis langfristig auf ein paar wenige gemeinsame Ziele zu fokussieren und die Leistungspartner, die Bevölkerung und die Zweitwohnenden für diesen Weg zu gewinnen, dann sind die Schleusen für eine prächtige Entwicklung offen. Wenn nicht, ist die Arbeit eingeengt in einem Korsett von Partikularinteressen und wechselnden Spielregeln.

Wo sehen Sie generell den Bedarf an Innovation bei den Bergbahnen?

Bedarf an Innovation gibt es immer. Aktuell sind es die bekannten Themen Klimaveränderung und Schneesicherheit, internationale Märkte, und wie mit dem hohen Volatilitätsrisiko umgehen sowie die Rolle von Bergbahngesellschaften in Destinationen. Zu diesen Themen gibt es ja auch interessante Fachtagungen von Seilbahnen Schweiz. Es ist also sehr viel Fach- und Expertenwissen vorhanden. Ergänzend zu den Tagungsplattformen muss aber jede Bergbahngesellschaft ihre Hausaufgaben selber machen. Ich denke etwa an erfolgreiche Geschäftsmodelle der Winterbahnen für den Sommer, an die Zusammenarbeit in den Talschaften und Regionen, an die Fragen rund um den Service public von Bergbahnen. Und wenn etwas nicht (mehr) funktioniert, muss man weiter und neu denken. Die Erhaltung der bisherigen Geschäftsmodelle durch das Engagement der öffentlichen Hand ist nicht der erste Weg. Denn auch deren Möglichkeiten sind beschränkt.

Wie sieht die Seilbahn-Landschaft in 25 Jahren aus?

Im Zentrum wird immer noch stehen, die Gäste für die Zeit des Aufenthaltes glücklich zu machen und erinnerungswürdige Erlebnisse zu bieten. Die Bahnen werden noch moderner und noch digitaler sein. Hoch gelegene Bahnen können weiterhin mit dem Skitourismus ihr Geld verdienen, wobei der Skifahrermarkt weiter schrumpfen und sich konzentrieren wird. Innovative Bergbahnen finden zu neuen Geschäftsmodellen. Je nach natürlicher Voraussetzung entweder am Berg selber oder in Kooperation mit Leistungsträgern und Zweitwohnenden, vertikal integriert oder mit Kooperationen und Fusionen. Deshalb wird die Seilbahn-Landschaft in 25 Jahren noch vielfältiger sein als heute. Davon bin ich überzeugt.

Bewerbung für den Milestone 2020
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