Der Kräutersalat aus dem eigenen Garten ist jetzt im Hochsommer das Lieblingsgericht von Timo Fritsche, der für Andreas Caminada als Küchenchef das «Oz» in Fürstenau GR führt: «Der Gast kann auf einem Teller das gesamte Spektrum, das die Natur bietet, in allen Geschmacksnuancen wahrnehmen.» Jeden Tag fällt der Salat ein bisschen anders aus, je nachdem, was der 37-Jährige im Schlossgarten gefunden hat. Bis zu 30 unterschiedliche Kräuter, Blüten und Gräser schmeckt er abends mit leicht fermentiertem Kohlrabisaft ab und bestäubt sie mit Zitronenverveine-Puder: «Beim Essen kann der Gast in Gedanken durch den Garten gehen, er schmeckt die säuerlichen Noten von Sauerklee, die leichten Bitteraromen von ausgewachsenem Mangold, die nussigen Nuancen von Amaranth.»

Die Zutaten können sich von Tag zu Tag verändern
Seit Ende Juni ist Andreas Caminadas neuestes Restaurantprojekt «Oz» geöffnet, ein vegetarisches Konzept, das sich mit nur zehn Sitzplätzen sehr privat anfühlt. Es liegt in der historischen Remisa gegenüber von Schloss Schauenstein. Die Gäste nehmen auf bequemen Ledersesseln rund um einen massiven Tresen aus Bergahorn Platz und können jeden Handgriff in der offenen Küche verfolgen. «Oz» bedeutet auf Rätoromanisch «heute», der Name umschreibt das Konzept: «Im ‹Oz› deckt der Garten den Tisch», sagt Caminada. «Wir servieren neun bis zwölf Gänge, die sich je nach Reife und Verfügbarkeit der Zutaten tatsächlich von Tag zu Tag leicht verändern können.» Der kulinarische Anspruch ist derselbe wie in der Schlossküche, das ist dem Hausherrn wichtig: «Das Menü ist 100 Prozent vegetarisch, aber auch 100 Prozent Caminada.»[IMG 2]

[IMG 3]Der eigene Garten, rund 2600 Quadratmeter gross, kann natürlich nicht den gesamten Bedarf abdecken. Je nach Jahreszeit wird rund die Hälfte bei Produzenten eingekauft, die dem Spitzenkoch durch langjährige Zusammenarbeit verbunden sind, zum Beispiel der Bündner Gemüsebauer Marcel Foffa oder Georg Blunier vom Biohof Dusch. Die eigenen Beete aber sind für Küchenchef Fritsche als Inspiration von unschätzbarem Wert: «Der Garten ist unser Foodlab.» 40 Sorten Tomaten wachsen dort und bis zu 200 Kräuter, von Schnittlauch über roten Senf bis Borretsch, dazu schenkt die Natur Wildkräuter wie Hirtentäschel, Ehrenpreis oder Giersch. Der Garten erlaubt auch Experimente: «Wir lassen den Mangold spriessen, dadurch entstehen feine Spitzen, die einen intensiv nussigen, leicht bitteren, aber angenehmen Spinatton mitbringen – so etwas kann man nirgendwo kaufen.»

«Das Menü ist 100 Prozent vegetarisch, aber auch 100 Prozent Caminada.»

Andreas Caminada, Spitzenkoch, Gastrounternehmer und Kochbuchautor

Fritsche, zuvor Caminadas Stellvertreter in der Schlossküche, ist für die neue Aufgabe prädestiniert. Der Norddeutsche arbeitete acht Jahre lang für den Osnabrücker 3-Sterne-Koch Thomas Bühner im inzwischen geschlossenen Restaurant La Vie. Mehrmals die Woche fuhr er ins niedersächsische Schloss Ippenburg, dessen riesige Gartenanlagen Bühner nutzen durfte: «Es hat mich schon damals gereizt, als Koch die Prozesse in der Natur zu verstehen.» Mit den Themen Einwecken und Fermentation beschäftigt er sich ebenfalls seit langem – in der Gemüseküche essenziell, um auch im Winter eine abwechslungsreiche Speisekarte zu bieten. Empfindet der Küchenchef, der sich privat nicht vegetarisch ernährt, das Kochen ohne Fisch und Fleisch als Einschränkung? Im Gegenteil, sagt Fritsche, man sei freier, müsse sich nicht den überlieferten Menüfolgen der klassisch französischen Küche unterwerfen: «Die Dramaturgie richtet sich eher nach verschiedenen Geschmacksnuancen. Ich arbeite anfangs mit mehr Säure, gehe dann in die Räuchernoten, dann ins Salzige und in die Schärfe.»

Kosmos Caminada
Das «Oz» ist der jüngste Neuzugang im Genussimperium, das Andreas Caminada in Fürstenau GR vorantreibt: Zum mit 3 Michelin-Sternen und 19 Gault-Millau-Punkten ausgezeichneten Schloss Schauenstein, das auch neun Zimmer und Suiten bietet, kam 2018 das Gasthaus Casa Caminada mit Restaurant, Zimmern, Kulinarikkeller, Laden und Holzofenbäckerei hinzu. Neben weiteren laufenden Projekten wie dem Fine-Dining-Sharing-Konzept Igniv lancierte der 44-Jährige kürzlich «Caminada», sein eigenes Magazin.
andreascaminada.com

Die Köche arbeiten einmal pro Woche im Garten
Für die Köche ging es zunächst darum, das Verständnis für die Vorgänge der Natur zu schärfen: «Wir mussten lernen, richtig zu gärtnern», sagt Caminada. «Was wächst wie am besten, wann können wir wie viel ernten? Welche Fruchtfolge tut dem Boden gut?» Der Spitzenkoch teilt nicht nur jeden seiner Köche einmal die Woche zum Gartendienst ein, er holte sich auch kompetente Verstärkung bei Thomas Monn, einem früheren Heilpraktiker, der sich heute hauptamtlich um den Garten in Fürstenau kümmert. Er ist Experte für Permakultur, sein Interesse ist es, mit der Natur zu arbeiten, nicht gegen sie: «Ich setze Pflanzen nur dort in die Erde, wo sie sich wohlfühlen.» Auf den Einsatz chemisch-synthetischer Dünger und Pestizide verzichtet er, ebenso auf Monokulturen. Nachdem etwa die Erdbeeren abgeerntet waren, liess Monn die Fläche zunächst von Ringelblumen überwuchern, damit die Erde sich selbst reinigt und gewisse Stickstoffe ausgetragen werden, um dann Physalis und Tomatillos auszusäen.

Die Natur dankt es ihm: In Spitzenzeiten gedeihen hier rund 700 verschiedene Früchte, Gemüse- und Kräutersorten. Wie direkt die Inspiration aus dem Garten erfolgt, erlebte Fritsche im Frühsommer am Thema Erbse. Beim Pulen kam ihm die Idee, die Schoten nicht wegzuwerfen, sondern zu fermentieren, so entstand eine spannende neue Geschmacksnuance. Am Ende wurde daraus eine Mousse, die er mit etwas Brunnenkresse und frisch gegrillten Erbsen anrichtete. Dazu servierte er Erbsenhummus, eingewickelt in eine Anisdolde, ähnlich einem Taco. Ein Spiel mit der Aromatik, das viele Gäste begeisterte – so hatten sie das Gemüse noch nie gegessen.