Der Tourismus ist weltweit ein wichtiger Wirtschaftssektor. Vor der Pandemie trug er mehr als 10 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung bei – im Durchschnitt. In vielen Ländern und Regionen ist der Tourismus sogar mit Abstand die wichtigste Einkommensquelle, die Millionen von Menschen in strukturschwachen Standorten eine Lebensgrundlage bietet. Die Welttourismusorganisation (UNWTO) betont die Bedeutung des Tourismussektors für die Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) deshalb regelmässig. «Tourismus kann ein Motor für positive Veränderungen für ländliche Gegenden auf der ganzen Welt sein», so UNWTO-Generalsekretär Zurab Pololikashvili zuletzt im Frühjahr. Zum gleichen Zeitpunkt lancierte seine Organisation die Initiative «Best Tourism Villages». In den Augen der Welttourismusorganisation sind dies Orte, in denen der Tourismus zur Aufwertung und zum Schutz der Dörfer beiträgt. «Wir wollen die Dörfer von ihrer besten Seite zeigen und die besten Initiativen präsentieren, um den Tourismus für eine bessere Zukunft im ländlichen Raum zu nutzen», so Pololikashvili.

Jeder der 158 UNWTO-Mitgliedsstaaten hatte bis Ende Juli 2021 Zeit, bis zu drei Dörfer ins globale Rennen um die Auszeichnung als «Best Tourism Village» zu schicken. Gemäss UNWTO wurden mehr als 170 Dörfer aus fast 80 Ländern nominiert, ein Grossteil davon in Europa und den USA. Auch die Schweiz hat drei Orte ausgewählt: die beiden autofreien Dörfer Saas-Fee VS und Gruyères FR sowie die bündnerische Valposchiavo, die sich ebenfalls der Regionalität und Nachhaltigkeit verschrieben hat. Auserkoren wurden sie von einer Jury bestehend aus Vertretenden des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), des Bundesamts für Umwelt (Bafu) und Schweiz Tourismus aus insgesamt zehn Bewerbungen.

Den Dörfern ist internationale Aufmerksamkeit sicher
Welche Dörfer sich zukünftig mit dem Titel schmücken dürfen, wird an der 24. Sitzung der UNWTO-Generalversammlung vom 30. November bis 3. Dezember 2021 im marokkanischen Marrakesch bekannt gegeben. Wie die Chancen der drei Schweizer Bewerbungen stehen, wagt niemand abzuschätzen. Eine fixe Anzahl Auszeichnungen gebe es nicht, teilt die UNWTO auf Anfrage mit. Es hänge einzig von der Qualität der einzelnen Bewerbungen ab. Beim Seco hält man die Erwartungen tief: «Die drei Orte haben das Label nicht auf sicher. Gemäss unserem Verständnis ist von «kein Schweizer Village» bis zu «drei Schweizer Villages» alles denkbar», so Mediensprecher Fabian Maienfisch.

Doch was dürfen sich die Schweizer Dörfer von einer Auszeichnung durch die Welttourismusorganisation erhoffen? Dazu muss man wissen, dass die Initiative drei Elemente umfasst (siehe Box). Neben dem eigentlichen Label wird es ein sogenanntes Upgrade-Programm für jene geben, die die Kriterien noch nicht gänzlich erfüllen, sowie ein Netzwerk zum Erfahrungsaustausch.

«Den Gewinnerdörfern ist international sowohl brancheninterne als auch mediale Aufmerksamkeit sicher. Weiter erfolgt die Einbindung in die weltweiten Kampagnen der UNWTO», beschreibt André Aschwanden, Mediensprecher bei Schweiz Tourismus, die Vorteile. Auf einen Werbeeffekt hofft man auch in den Orten selbst. «Mit der Auszeichnung durch die UNWTO wollen wir den Gästen demonstrieren, dass ökologischer Tourismus möglich ist und sie diesen bei uns finden», sagt Michelle Bumann, Produkt & Marketing Manager, Saas-Fee. Ähnlich klingt es aus der Valposchiavo: «Eine erfolgreiche Ernennung würde sicher eine sehr grosse Sichtbarkeit für unsere Destination bringen», so Tourismusdirektor Kaspar Howald. «Wir sind bereits Teil des Unesco-Welterbes der Albula/Bernina-Linie der Rhätischen Bahn. Falls sich dazu noch ein UNWTO-Label gesellen würde, wäre das sicher reizvoll.» [RELATED]

Die eigenen Schwächen benennen und angehen
Signalwirkung kann das Label indes auch nach innen entfalten, also gegenüber den Einwohnerinnen und Einwohnern. «Wir wollen der Bevölkerung zeigen, dass wir uns für eine bestmögliche Lebensqualität einsetzen, und motivieren junge Menschen, in Saas-Fee oder im Saastal zu bleiben», so Bumann. Dies wäre ganz im Sinne der UNWTO, welche mit der Initiative explizit auch die Landflucht aufhalten will.

Doch unabhängig davon, ob es mit der Auszeichnung klappt oder nicht, bringt das Auswahlverfahren den Destinationen jetzt schon einen Mehrwert. Denn Bedingung für die Teilnahme war unter anderem, sich selbstkritisch mit dem eigenen touristischen Angebot auseinanderzusetzen. So mussten die Orte Herausforderungen benennen, die die nachhaltige Tourismusentwicklung im Ort gefährden, und aufzeigen, wie man mit diesen umgehen will. In der Valposchiavo stellt beispielsweise die zu wenig rentable Hotellerie ein Problem dar. Laut Kaspar Howald liegt die durchschnittliche Bruttoauslastung der rund 30 Beherbergungsbetriebe bei circa 21 Prozent. «Eine solche Auslastungsziffer ist zu tief, um allen Strukturen mittel- und längerfristig eine Zukunft zu garantieren.» Begegnen wolle man dem mit einer Initiative, die die Übernachtungszahl in der Hotellerie von heute rund 60 000 in den kommenden fünf Jahren auf 100 000 erhöhen soll. In Saas-Fee sieht man dagegen die globale Erwärmung und den Rückzug der Gletscher als Bedrohung. «Derzeit wird in Saas-Fee sogar im Sommer Ski gefahren. Die Frage ist, wie lange dies aufgrund der immer wärmeren Sommer noch möglich sein wird», so Bumann. Als Antwort darauf weite man die Angebotspalette im Sommer aus.

Auch im freiburgischen Gruyères hat man Herausforderungen identifiziert. Etwa die Zunahme des Verkehrs rund um das beschauliche Dorf. Entgegensetzen will man dieser Entwicklung ein besseres ÖV-Angebot, ein verbessertes Parksystem sowie Selbstbedienungs-E-Bikes, so Guillaume Schneuwly, Direktor von La Gruyère, auf Anfrage. Überhaupt begrüsst er die Initiative «Best Tourism Villages». Von einer Zusammenarbeit mit der UNWTO könnten kleine Tourismusorganisationen auf jeden Fall profitieren.

Drei Säulen für einen nachhaltigen ländlichen Tourismus
Label: Auszeichnung für ländliche Tourismusdestinationen, die sich zu Innovation und Nachhaltigkeit in sämtlichen Bereichen bekennen.
Upgrade-Programm: Für Dörfer, die die Kriterien noch nicht vollständig erfüllen, aber von UNWTO und Partnern gezielt bei der Umsetzung unterstützt werden.
Netzwerk: Zum Austausch von Erfahrungen und Best Practice zwischen Dörfern und Experten und Partnern aus dem öffentlichen und privaten Sektor.
unwto.org/tourism-villages

patrick timmann