Ohne ihn sähe die Jungfrau Region bestimmt anders aus als heute. Wie bei einem König, gibt es welche, die ihn bewundern und andere, die das Heu nie auf der gleichen Bühne hatten. Wer ein Milliarden-Unternehmen wie die Jungfraubahn-Gruppe führt, das hunderte Arbeitsplätze geschaffen hat, der polarisiert. Urs Kessler lässt niemanden kalt.

Wir treffen uns im Terminal, der futuristischen Talstation der V-Bahn in Grindelwald Grund. Alle paar Schritte grüsst er links, fragt nach dem Befinden rechts und wird allenthalben gegrüsst. Als wir in der VIP-Lounge ankommen, bietet er Kaffee und Wasser an. Keine Spur von royaler Allüre. Nach dem Gespräch wird er mich mit seinem Auto zum Bahnhof in Interlaken fahren und mir eine Schachtel Eigerspitzli mitgeben – «Home Made On 2320m». Urs Kessler weiss definitiv, wie man die Menschen für sich gewinnt.

Urs Kessler, lässt sich Ihr jüngstes Grossprojekt, die Firstbahn, mit dem Bau des Generationenprojekts V-Bahn vergleichen? Was hat sich seit damals geändert?
Die Firstbahn wird ja nicht ganz neu gebaut, sondern für 100 Millionen erneuert, weil die Konzession der aktuelle Bahn 2034 ausläuft. Deshalb sind die Einheimischen grossmehrheitlich dafür. Der Widerstand gegen die V-Bahn war damals viel grösser. Damals ging es ja um 510 Millionen Franken, um Durchfahrtsrechte, Landabtretungen und Naturschutz … 

Die V-Bahn wurde im Dezember 2020 eröffnet, mitten in der Pandemie. Bad timing?
Das war etwas unglücklich, aber die Pandemie hat ja die ganze Welt überrascht. Wichtiger aber sind die Langzeitfolgen. Corona hat die Welt verändert, auch die der Jungfraubahnen: Die Zahl der Gesetze, der Vorschriften und Regulierungen hat nach der Pandemie noch einmal zugenommen.

Daran ist Corona schuld?
Corona hat die Gesellschaft verändert. Die krankheitsbedingten Absenzen sind klar höher als vor 2020, die Belastbarkeit ist gesunken, man hat sich an einen Homeoffice-Rhythmus gewöhnt. Vor allem aber ist die Entscheidungsfreudigkeit gesunken. Niemand will mehr Verantwortung tragen, überall der Ruf nach Absicherung und Sicherheit. Vorschriften und Gesetze nehmen uns nun vorgeblich diese Verantwortung ab. Aber damit ersticken sie selbstverantwortliches Denken und Entscheiden, das macht langsam und träge. Ohne Innovation und unternehmerisches Risiko gibt es keinen unternehmerischen Erfolg.

Im Gegensatz zur V-Bahn werden Sie den Spatenstich der Firstbahn nicht mehr als Chef erleben – wurmt Sie das?
Ich bin noch bis am 12. Juni 2025 bei den Jungfraubahnen. Bis dahin schaue ich, dass die sechs laufenden strategischen Projekte gut aufgegleist sind. Ich werde alles dafür tun, dass die Jungfraubahnen langfristig auf Erfolgskurs bleiben.

Nur weil die Zeiten turbulent sind, ändern wir unsere langfristige Strategie nicht.

Sechs strategische Projekte?
Neben der Firstbahn gehört das Museum Vertical Experience am Fusse der Eiger-Nordwand dazu. Dann die Solaranlage Hintisberg. Das Hotel Interlaken-Ost. Dann wollen wir die Berner Oberland-Bahn zur ersten S-Bahn der Alpen machen, das heisst, wir wollen den 15-Minuten-Takt einführen. Und schliesslich wollen wir Top of Europe, also die in die Jahre gekommene Infrastruktur auf dem Jungfraujoch erneuern.

2024 liessen sich eine Million Besucher aufs Jungfraujoch fahren, weit über 800 000 Menschen übernachteten in Grindelwald. Die Firstbahn wird noch mehr Menschen anziehen. Wie soll die 4000-Seelen-Gemeinde diese Ströme künftig verkraften?
Tourismus ist mit Mobilität verbunden. Das führt uns in ein Dilemma, klar. Aber als Unternehmen können wir den Kunden nicht vorschreiben, was ihnen zu gefallen hat. Die Medien reden immer von Frequenzen. Aber das ist die falsche Kennzahl: Für uns entscheidend ist die Rentabilität einer Unternehmung.

Für die Unternehmung stimmt das sicher …
2019 haben wir einen Jahresgewinn von 53,3 Millionen Franken gemacht, 2023 waren es 79,6 Millionen. Wir haben einen Ebitda von 139,4 Millionen und eine Ebitda-Marge von 50,1 Prozent und ein Return on Sales von 28,6 Prozent. Das sind die entscheidenden Grössen …

… Sie weichen mir aus. Was hat die Region davon?
Wir haben heute eine Top-Infrastruktur. Wir zahlen 20,4 Millionen Franken Steuern, das sind fast 56'000 Franken, Tag für Tag. Wir beschäftigen in einer Randregion 1000 Mitarbeitende, die wiederum Steuern zahlen. Wir tragen sehr viel zur Wertschöpfung bei. Wir bringen viele Anlässe in die Region, von denen nicht nur wir profitieren. Studien zeigen, dass 90 Prozent der Einheimischen in Grindelwald vom Tourismus abhängen. In Interlaken dürften es 80 Prozent sein. Gäbe es uns nicht, gäbe es viel weniger Arbeit. Das zeigt den Stellenwert des Tourismus in unserer Region. Das sind Tatsachen, die gerne unterschlagen werden. Aber ich weiss: Wertschätzung und Dankbarkeit darf man nur selten erwarten. 

Sie sagten vorhin, man könne den Gästen nicht vorschreiben, was ihnen zu gefallen habe. Aber wenn Sie die Infrastruktur ständig ausbauen, werden immer mehr Gäste kommen. 
Grundsätzlich wollen wir heute lenken statt fördern. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Vom 1. Mai bis Ende August haben wir eine obligatorische Sitzplatzreservation fürs Jungfraujoch eingeführt. Wir bringen pro Tag maximal 5500 Gäste auf den Berg. So lenken wir die Gäste ganz gezielt. Ausserdem wollen wir die Spitzen in der Hochsaison brechen: Von der 10-Monate-Saison 2007 sind wir heute bei der 12-Monate-Saison. Das ist kein Nice-to-have, sondern im modernen Tourismus ein absolutes Must.

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Wie wollen Sie das bewerkstelligen? 
Das geht, wenn man die Märkte kennt. Hauptreisezeit in Indien ist beispielsweise von April bis Juni. Genau in der Nebensaison, in der wir bei uns Gäste brauchen. Also bin ich 1996 mit diesem Wissen zum ersten Mal nach Indien gereist. Seitdem kommen die indischen Gäste vor allem zwischen April und Juni zu uns. Das ist auch gut für die Menschen in der Region: In den 1990er-Jahren gingen unsere Mitarbeiter in den Depots Wagen putzen, weil es in diesen Monaten kaum andere Arbeit gab.

Ein Gastarbeiter hat mir erzählt, dass er in Grindelwald für eine 1,5-Zimmer-Wohnung 1800 Franken bezahle. Das sind Zürcher Preise
Wir versuchen natürlich, Personalwohnungen zu bauen. Das wird in Zukunft immer wichtiger. Die ganz grossen Profiteure unserer modernen Infrastruktur sind übrigens nicht wir. Die Gewinner einer guten Infrastruktur im Tourismus sind oft die Immobilienhändler und die Chalet- und Ferienwohnungsbesitzer. Der Wert der Wohnungen in Grindelwald hat seit der V-Bahn um mindestens fünfzig Prozent zugelegt.

Und die Mieten natürlich auch.
Das ist die Kehrseite der Medaille. Angebot und Nachfrage spielen hier eine Rolle. Da sind alle gefordert, nicht nur die Bahnen. Wir bauen im Zusammenhang mit der Erneuerung der Firstbahn auf der Fuhrenmatte neue Wohnungen. Wir haben Häuser gekauft, die wir nun zu Personalwohnungen umgebaut haben. Wir tun einiges. Gefordert sind aber auch die Hoteliers und alle anderen Leistungsträger.

Im Rückblick: Was würden Sie anders machen?
Ich muss Sie enttäuschen (lacht). Ich würde alles genau gleich machen. Als Unternehmer muss ich nach vorne schauen und kann mich nicht an der Vergangenheit orientieren.

Als Unternehmen können wir den Kunden nicht vorschreiben, was ihnen zu gefallen hat.

Wie beeinflusst der Klimawandel die Strategien der Jungfraubahnen?
Wir hatten bei den Jungfraubahnen immer eine langfristige Strategie für den Sommertourismus. Das kommt uns jetzt zugute, denn die Wintersaison wird kürzer werden. Bevor wir das Bahnenangebot ausgebaut haben,, war der Wintertourismus ein Sorgenkind. Wir haben bis zur Realisation der V-Bahn den Wintertourismus mit dem Sommer quersubventioniert. Heute lautet das Ziel Ganzjahrestourismus. So schaffen wir Arbeitsplätze fürs ganze Jahr. Nur weil die Zeiten turbulent sind, ändern wir unsere langfristige Strategie nicht.

Wie hat sich die Zusammensetzung der internationalen Gäste im Laufe der Jahre verändert?
Als ich 1987 angefangen habe, hatten wir knapp 300'000 Gäste, darunter einige Japaner. Also haben wir uns um die asiatischen Märkte bemüht. Das war und ist langfristige, harte Aufbauarbeit. Heute kommen mehr als siebzig Prozent unserer Gäste aus Asien, das sind mehr als 700'000 Personen.

Warum haben Sie Erfolg gehabt?
Unsere antizyklische Strategie hat uns sicher geholfen. Ende der 1990er-Jahre, mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise, haben wir in China, Korea, Japan, Taiwan, Indonesien und Indien ein Vertreternetz aufgebaut. Das hat viel mit Markenführung zu tun. Der Gast muss im Reisebüro das Jungfraujoch buchen wollen. Dazu muss man wissen, dass je nach Europareise ein Ausflug aufs Jungfraujoch das Budget mit acht bis zehn Prozent belastet.

Wie schaffen Sie das?
Die vier A sind ganz wichtig.

Aha?
«Anders als alle anderen». 2021, mitten in der Pandemie, bin ich nach Asien gereist, überall die Tests und Kontrollen, das war nicht ganz einfach. Das Wichtigste, was die Jungfraubahnen in dieser Krise machen konnten, war den Kunden Wertschätzung entgegenbringen. Deshalb sind wir viel schneller als andere Unternehmen aus dieser Krise rausgekommen. Know each other, respect each other, trust each other – wer das in Asien ernst nimmt und lebt, hat sehr gut Karten.

Erzählen Sie uns ein Beispiel?
Unser erster und grösster Kunde in Asien, ein grosses Reisebüro in Taiwan, hat den persönlichen Kontakt sehr geschätzt. Das war Ende der 1980er-Jahre. Ich habe Bilder und Videos der Jungfrauregion gezeigt, und ich habe meine Gastgeber immer kurz in deren Landessprache begrüsst. Das wird in Asien sehr geschätzt. Beim Abschied meinte der Chef: Urs Kessler, you came to Taipeh from zero to hero. Das hat mich unheimlich gefreut. 

Kurz und bündig

Qualität ist .... 
…entscheidend für den langfristigen Erfolg.

Die Natur... 
…ist einzigartig und wir müssen ihr Sorge tragen.

Stolz bin ich... 
… aufs Team der Jungfraubahnen und das gemeinsam Erreichte.

Am meisten zu verdanken habe ich … 
…Dr. Roland Hirni, der mich 1986 angestellt hat, und sagte: «Mach eis öpis.»

Am besten erhole ich mich … 
…wenn ich Sport treibe.

Von einem sehr guten Freund erwarte ich… 
… Offenheit, Ehrlichkeit und dass er mich immer wieder auf den Boden bringt.

In den Ruhestand nehme ich mit ... 
… viel Freude und Aufgeschlossenheit für Neues.

Sie haben immer gesagt, dass die Chinesen zurückkommen. Wo sind sie?
Die Gründe für das Wegbleiben sind ganz klar ökonomischer Natur. China steckt in einer Wirtschaftskrise. Sie kommen zurück, aber es wird dauern. Längerfristig wird der indische Markt wichtiger sein für uns als der chinesische.

Statt der Chinesen kommen nun vor allem die Amerikaner. Sehen wir bald MAGA-Shops und Burger-Restaurants hier im Terminal und oben auf dem Jungfraujoch?
Die USA kamen sehr schnell aus der Krise. Und wegen der hohen Inflation sind wir mit unseren Preisen wieder sehr konkurrenzfähig. Skifahren in Europa ist für viele Amerikaner günstiger als in Aspen oder Vail.

Was unterscheidet nordamerikanische von asiatischen Touristen?
Amerika ist heute das Land der vielen Individualreisenden. In Asien sehen wir noch viel mehr Gruppereisende. Die Mentalitäten der einzelnen asiatischen Länder und der Amerikaner sind sehr unterschiedlich. Und natürlich spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Englisch verstehen viele hier, Chinesisch, Japanisch oder Hindi eher nicht.

Gab es in all den Jahren nie Abwanderungsgelüste Ihrerseits? Hatten Sie nie einfach die Schnauze voll?
Es gab Angebote, doch. Eine internationale Hotelkette hat mal angefragt, aber da hätte die ganze Familie nach Brüssel ziehen müssen. Das wollte ich nicht. Und ich hatte natürlich gehofft, Chef der Jungfraubahnen zu werden (lacht). Der wahrscheinlich wichtigste Grund, warum ich fast 40 Jahre beim gleichen Unternehmen geblieben bin, ist die Region selber: Wenn ich von meinen Auslandreisen nach Hause komme, wenn ich Eiger, Mönch und Jungfrau sehe, bin ich jedes Mal von Neuem überwältigt. Ich glaube, viele hier realisieren gar nicht, was wir für ein Paradies haben.

Sie haben Ihren Rücktritt per Ende Juni dieses Jahres angekündigt. Was hat Sie zu diesem Zeitpunkt bewogen? Sie sind ja erst 63.
Ich habe meinen Rücktritt ganz bewusst im Sommer 2023 angekündigt. Erstens sind wir börsenkotiert und zweitens sollte das  Unternehmen genügend Vorlauf haben für die Rekrutierung meiner Nachfolge. Aber ganz ehrlich: Ich hatte schon 2019 ein anderes Drehbuch, aber das Leben hat sich nicht darangehalten. Corona hat alles auf den Kopf gestellt. Geplant war, dass ich 2022 einen Job im Ausland annehme …

… das war?
Wir haben Stillschweigen vereinbart, sorry. Für mich war sofort klar, dass ich sicher nicht während der Pandemie gehe. Ich konnte das Team nicht hängenlassen.

Sehen Sie sich eigentlich als Patron oder als CEO?
Ich sehe mich eher als Coach und als Chef eines Teams. CEO fand ich immer überheblich, hochtrabend. Wir können viel über Führung reden. Das Wichtigste dabei ist aber immer die Vorbildfunktion. Und die Kommunikation. Ich bin jeden Samstag draussen und unterhalte mich mit den Menschen. So weiss ich immer, was läuft.

Wie viele Stunde arbeiten Sie pro Woche?
Während der V-Bahn-Zeit waren das im Schnitt mehr als 70 Stunden, jeden Samstag war ich auf den Baustellen. Heute dürften es um die 60 sein. Ich halte es mit Konfuzius: Wenn du das tust, was du gerne tust, wirst du nie mehr arbeiten müssen.

Wie fühlt es sich für Sie an, wenn Sie Mitarbeitenden kündigen müssen?
Ich musste sogar Schulkollegen entlassen. Als Führungskraft muss man Fehler zeitnah korrigieren. Wenn ich vor einem harten Entscheid zurückschrecke, entziehe ich mich der Verantwortung. Ich brauche nicht die besten Einzelkämpfer, ich brauche das beste Team.

Ich sehe mich eher als Coach und als Chef eines Teams. CEO fand ich immer überheblich, hochtrabend.

Einer, der 38 Jahre lang mit Leib und Seele für die Jungfraubahnen gearbeitet hat, wird wohl nicht einfach ins 2. Glied zurücktreten. Wird das was als Präsident von Swiss Ice Hockey?
Ich will künftig mit dem gleichen Enthusiasmus weitergehen, wie ich das bisher gemacht habe. Eishockey gehört sicher dazu. Ich wurde angefragt und kandidiere, ja.

Sollte es klappen, bewegen Sie sich zwischen den drei Berner Klubs auf dünnem Eis. Für welchen der drei schlägt ihr Herz?
Seit meiner Kindheit für den SCB und ein wenig auch für Langnau. Aber in Zukunft würde ich sofort neutral sein. 

Ausfüllen würde Sie das Amt wohl kaum?
Ich habe noch als Verwaltungsratspräsident des Kursaals Interlaken zugesagt. Mein Vater war dort Betriebselektriker, eine Verbundenheit ist schon da.

Die Politik ist kein Thema? 
(Lacht). Ich muss es so sagen: Ich kenne meine Grenzen. Wenn ich erstens etwas nicht bin, dann Diplomat. Zweitens bin ich viel zu ungeduldig. Und drittens sind mir die Entscheidungswege in der Politik viel zu lang, da geht’s einfach nicht vorwärts. Wer etwas will, sucht Lösungen. Wer etwas nicht will, sucht Gründe. Ich habe immer nach Lösungen gesucht.

Zur Person
Urs Kessler, Jahrgang 1962, ist seit 2008 CEO der Jungfraubahnen. Im Unternehmen ist er seit 1987. Als einer der ersten Schweizer Touristiker reiste er nach Asien und baute ein Vertriebsnetz auf. Asiatische Märkte zwischen Indien, China und Japan besuchte er weit über hundert Mal persönlich. Mit dem Generationenprojekt V-Bahn setzte er sich und der Region ein Denkmal. Im Juni übergibt er die Verantwortung an seinen Nachfolger. Kessler lebt in Interlaken, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

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