In den vergangenen Wochen war in verschiedenen Medien zu lesen, in Grindelwald stünden sich «die Bevölkerung» und «der Tourismus» gegenüber.

Ich verstehe, woher dieses Bild kommt: Wer im Stau steht, im vollen Bus keinen Platz findet oder Mühe hat, eine bezahlbare Wohnung zu erhalten, erlebt den Tourismus rasch als Gegenspieler. Doch diese Gegenüberstellung greift zu kurz.

Der Tourismus ist in Grindelwald kein äusserer Akteur, er ist der wirtschaftliche und gesellschaftliche Herzschlag unseres Dorfs. Wer Bevölkerung gegen Tourismus stellt, stellt letztlich Grindelwald gegen sich selbst.

Grindelwald zählt rund 4300 Einwohnerinnen und Einwohner, verzeichnete 2024 über 1,6 Millionen Logiernächte und eine durchschnittliche Bettenauslastung von etwa 70 Prozent. Damit gehört die Gemeinde zu den bestausgelasteten Destinationen der Schweiz und des Alpenraums.

Das ist nicht ein bisschen Tourismus nebenbei, sondern eine klar profilierte Ganzjahresdestination.

Das ist nicht ein bisschen Tourismus nebenbei, sondern eine klar profilierte Ganzjahresdestination.

Laut der Beschäftigungsstatistik 2022 der Regionalkonferenz Oberland-Ost waren in Grindelwald 3260 Personen erwerbstätig, davon 2563 im dritten Sektor, also knapp 80 Prozent im Dienstleistungsbereich.

In einer Gemeinde wie unserer bedeutet das: Ein Grossteil dieser Arbeitsplätze hängt direkt oder indirekt am Tourismus – von Hotellerie und Bergbahnen über Gastronomie, Detailhandel und Transport bis hin zu Banken, Handwerk, Bau und Landwirtschaft. Letztere liefern ihre Produkte an Gäste und Betriebe oder tragen zum Erhalt des Landschaftsbilds bei.

Im Alltag zeigt sich diese Verflechtung besonders deutlich: Praktisch jede Familie im Dorf hat irgendwo eine Schnittstelle zum Tourismus – sei es durch einen Arbeitsplatz, eine Ferienwohnung, Aufträge im Bau und Ausbau, einen Dienstleistungsbetrieb oder einen eigenen Kleinbetrieb mit Gästekontakt.

Der Tourismus ist damit kein Sektor neben der übrigen Wirtschaft, sondern ein Querschnitt, der fast alle Branchen durchzieht. Wer «die Bevölkerung» dem «Tourismus» gegenüberstellt, blendet aus, dass beides in Grindelwald weitgehend deckungsgleich ist.

Auch die Gemeindefinanzen spiegeln diese Verflechtung wider. Die Jahresrechnung 2024 schliesst mit einem deutlichen Ertragsüberschuss, der Fiskalertrag liegt über dem Budget, die Kennzahlen bewegen sich im grünen Bereich. Möglich ist dies nur dank den Steuerzahlungen und der hohen Wertschöpfung tourismusnaher Unternehmen, Liegenschaften und Einkommen.

Ein weiterer Punkt ist von politischer Bedeutung: Kein substantielles Tourismusprojekt wird in Grindelwald ohne Mitsprache der Bevölkerung realisiert. Grossprojekte wie die V-Bahn oder die Entwicklung des Regina-Areals beruhen auf Überbauungsordnungen, über die an der Gemeindeversammlung entschieden wurde.

Auch bei der Erneuerung der Firstbahn wurde die Bevölkerung aktiv einbezogen – im Mitwirkungsverfahren und an einem Informationsanlass. Über die Rahmenbedingungen befindet stets zuerst die Bevölkerung. Findet ein Projekt eine Mehrheit, ist das ein demokratischer Entscheid der Stimmberechtigten – kein Sieg des «Tourismus» über die «Bevölkerung».

Dass Zielkonflikte bestehen, bestreite ich nicht.

Dass Zielkonflikte bestehen, bestreite ich nicht: Verkehrsbelastung, Bodenknappheit, Wohnraumfragen, Herausforderungen im Bereich Wasser, Abwasser und Abfall, das Ruhebedürfnis der Einheimischen auf der einen Seite und der Erlebniswunsch der Gäste auf der anderen. Diese Spannungsfelder nehmen wir ernst. Das Pilotprojekt der Universität Bern mit den Gemeinden Grindelwald und Lauterbrunnen sowie den Bahnen soll hier Lösungsansätze liefern.

Die eigentlichen Interessengegensätze verlaufen quer durch die Bevölkerung: zwischen Grundeigentümerinnen und Grundeigentümern und Mietenden, zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen, zwischen Betrieben mit direktem Gästekontakt und solchen ohne, zwischen kurzfristigen Renditeerwartungen und langfristigen Entwicklungszielen für das Dorf.

Als Geschäftsleiter von Grindelwald Tourismus erlebe ich täglich, wie dieselben Menschen verschiedene Rollen einnehmen: Morgens stehen sie im Hotel, im Laden oder am Schalter im Kontakt mit Gästen, mittags sorgen sie sich als Eltern um den Schulweg ihrer Kinder, abends entscheiden sie an der Gemeindeversammlung über eine Überbauungsordnung oder einen Investitionskredit.

Diese Mehrfachrolle ist unsere Stärke.

Diese Mehrfachrolle ist unsere Stärke. Sie sorgt dafür, dass touristische Entwicklung stets an der Lebensqualität im Dorf gespiegelt wird.

Darum wünsche ich mir in der öffentlichen Debatte eine präzisere Sprache. Statt pauschal von «Bevölkerung und Tourismus» zu sprechen, sollten wir von unterschiedlichen Nutzungsinteressen innerhalb der Bevölkerung reden – von Grindelwalderinnen und Grindelwaldern in ihren verschiedenen Rollen: als Einwohnende, Arbeitnehmende, Unternehmerinnen und Unternehmer, Vermietende.

Grindelwald ist und bleibt eine touristische Gemeinde. Der Tourismus ist kein Gegenpol zur Bevölkerung, sondern ein wesentlicher Teil unserer Identität, unserer Lebensgrundlage, unseres Wohlstands – und unseres Zusammenhalts.

Bruno Hauswirth ist Geschäftsleiter von Grindelwald Tourismus