Von Thomas Paul, Keystone-SDA

Die Explosion des Tourismus-Aufkommens in den vergangenen 50 Jahren ist eine Folge des Wirtschaftsaufschwungs und letztlich ein Ergebnis der Industrialisierung, bilanziert der Historiker Valentin Groebner von der Universität Luzern. Der Tourismus-Boom spiegelt demnach das Verhältnis zwischen dem frei verfügbaren Lohneinkommen und den Kosten für das Überwinden grosser Distanzen.

«Die übliche Art Urlaub ist ausserdem ein Statussymbol, also demonstrativer Konsum: Für drei Wochen im Jahr tut man so, als sei man eine reiche Person ohne Sorgen», sagt Groebner im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Urlaub sei «eine Art soziales Spiel, deshalb auch der beträchtliche Grad an Infantilisierung in der Tourismusindustrie».

Letzte grosse private Utopie
Als «letzte grosse private Utopie» am Beginn des 21. Jahrhunderts bezeichnet der Luzerner Historiker den Urlaub. «Die vermeintliche persönliche Veränderung durch Reisen oder die Freiheit per Billigflug und Mietauto sind einfach Märchen für Erwachsene», sagt er.

Und Groebner fragt sich, was die 1,5 Milliarden Menschen, die sich im vergangenen Jahr auf die Suche nach dem gelungenen Ferienerlebnis gemacht haben, wohl im Sinne hatten – die Wiedergutmachung des eigenen Lebens, Belohnung für eine Art Verzweiflung am eigenen Alltag? Aber der Tourismus sei eine extrem innovative Dienstleistungsindustrie, die den Überdruss ihrer Kunden zu ständig neuen Angeboten ummünze und ausnutze.

Industrie des schlechten Gewissens
«Und sie ist seit 150 Jahren die Industrie des schlechten Gewissens, die laut die Zerstörung des Ursprünglichen und Idyllischen beklagt und daraus ununterbrochen neue Angebote schneidert – unter anderem Alternativ-, Ökologie- und Nachhaltigkeitstourismus», sagt Groebner. Und: «Reisen war schon lange vor Covid-19 eine sehr postromantische Angelegenheit.» Allerdings hätten Pandemien in der Vergangenheit auch immer Innovationsschübe ausgelöst, betont der Historiker.

Von der überraschenden, schnellen und unberechenbaren Ausbreitung des Coronavirus könnten nun aber Schockwellen ausgehen, welche die bisherige Sorglosigkeit im Reiseverhalten verscheuchen und eine Besinnung auf das Wesentliche fördern: Urlaub im eigenen Land, wo man sich auf ein leistungsfähiges Gesundheitssystem verlassen kann, Beschränkung auf weniger Reisen, weil mit einer zu erwartenden Rezession plötzlich nicht mehr so viel Geld zur Verfügung steht.

Verkleinerung der Hotel- und Gastro-Branche
Der HSG-Professor für Tourismus und Dienstleistungsmanagement Christian Laesser hält die gegenwärtige Corona-Krise für eine vorübergehende Erscheinung, allerdings mit unklarer zeitlicher Ausdehnung. Eine Verkleinerung der Hotel- und Gastro-Branche hält er für unausweichlich – auch weil grosse Gästegruppen aus China oder Indien für eine Weile ausbleiben würden. Zu einem Teil wenigstens könnten Europäer dies ausgleichen, glaubt er.

Auch eine Rezession sieht der St. Galler Ökonom als wahrscheinliches Risiko für die Schweizer Tourismus-Branche. Dabei komme es aber auch auf die Rolle des Staates an, gibt er zu bedenken. Krisen würden Strukturen bereinigen, aber auch zu Innovationen führen.

In Zukunft werde tendenziell weniger Geld für Reisen zur Verfügung stehen, glaubt Laesser. Jobs würden unsicherer, die junge Generation erlebe zudem eine doppelte Krise: nach der Finanzkrise von 2008 nun noch die Corona-Krise mit einem Einbruch der Wirtschaft. Dadurch wachse das Lohn-Prekariat, und auch eine grundsätzliche finanzielle Unsicherheit nehme zu.

All dies werde zu einer «Verwesentlichung» im Reiseverhalten führen – konkret: «Die Menschen werden sich zwei Mal überlegen, ob eine Reise wirklich sein muss, und einige werden sich gar keine Reise mehr leisten können», sagt Laesser. (sda)