«Gemüse ist die Zukunft», sagt Zizi Hattab. Mit ihrem vor zwei Jahren eröffneten «Kle» im Kreis 3 landete sie einen Überraschungserfolg, wie er selbst in der lebendigen Zürcher Szene Seltenheitswert hat: Mit veganer Küche auf Gourmetniveau traf sie einen Nerv. Ihr Markenzeichen sind aufwendig verarbeitete Gemüse, tiefgründige Saucen und markante Gewürze. Ihr Sonntagsbrunch ist Kult, abends sind zwei Seatings ausreserviert. Der Gault Millau bewertete die Quereinsteigerin aus dem Stand mit 14 Punkten (inzwischen sind es 15, Tendenz steigend).

Wie erklärt sich die studierte Software-Ingenieurin, die über Praktika bei Andreas Caminada und Massimo Bottura den Einstieg schaffte, ihren Erfolg? «Wir machen ein Angebot, das es so offenbar noch nicht gab und das die Gäste sehr schätzen», sagt sie. Und dabei geht es nicht nur um den Küchenstil, sondern auch um andere Werte, für die ihr Konzept steht: «Nachhaltigkeit, Teamwork und die Zusammenarbeit mit lokalen Produzenten.»

Vegane Tendenzen erobern weltweit die Spitzenküchen
Hattab ist zwar die derzeit plakativste Vertreterin eines pflanzenbasierten Küchenstils, aber kein Einzelfall. Vegane Tendenzen erobern weltweit die Spitzenküchen. In Deutschland bieten heute selbst hochdekorierte Köche wie Andreas Krolik im Frankfurter «Lafleur» und Tim Raue in seinem gleichnamigen Restaurant in Berlin neben ihrem klassischen Degustationsmenü eine vegane Option an. International renommierte Köche wie Rasmus Kofoed vom Kopenhagener 3-Sterne-Restaurant Geranium verzichten neuerdings ganz auf Fleisch, Daniel Humm überraschte die Szene mit dem Schwenk auf ein komplett veganes Angebot.

«Wir machen ein Angebot, das es so noch nicht gab und das die Gäste sehr schätzen.»
Zizi Hattab, Köchin und Inhaberin Restaurants Kle und Dar in Zürich

Auch in Zürich ist Zizi Hattab nicht allein: Tobias Hoesli erkocht mit seinem Lokal Marktküche im Kreis 4 schon seit Jahren 15 Gault-Millau-Punkte – ganz ohne Fleisch, Eier oder Milch. Und im Restaurant Mesa, das zum Jahresende schloss, weil Besitzerin Linda Mühlemann in den Ruhestand ging, bot Küchenchef Sebastian Rösch ab 2017 als einer der ersten Spitzenköche im Land neben seinem «Chef’s Choice Menü» auch das vegane «Back to the Roots» an.

Seit Ende Oktober hat sich das Angebot an der Limmat nochmals gesteigert: Hattab eröffnete ein zweites Lokal, das marokkanisch inspirierte «Dar», in einer ehemaligen Garage im Kreis 5 – mit rund 100 Sitzplätzen deutlich grösser als das «Kle». Hier serviert sie marokkanische Spezialitäten, natürlich vegan. Deren Geschmack hat sie von klein auf im Gaumen – ihre Eltern stammen aus Fès. «Die Kräuter und Gewürze aus Nordafrika sind sehr geschmacksintensiv», sagt Hattab. «Das passt perfekt für einen pflanzenbasierten Küchenstil.» [IMG 3]

Vegane Angebote als Alternative zum Gourmetmenü
Im Spitzensegment sieht man in der ganzen Schweiz zunehmend vegane Angebote als Alternative zum grossen Gourmetmenü. Gerade in der jungen Generation ist die Offenheit für das Thema gross. Marco Campanella, Küchenchef im «La Brezza» (1 Stern, 17 Gault-Millau-Punkte) im Hotel Eden Roc in Ascona, hat mit Weltanschaulichem nichts am Hut, seine Motivation ist eine andere: «Mich reizt die kulinarische Herausforderung, auf hohem Niveau ganz ohne tierische Produkte auszukommen.» Der 29-Jährige, als Sohn apulischer Eltern am Bodensee aufgewachsen, kocht derzeit, wie jede Wintersaison, im Tschuggen Grand Hotel in Arosa. Hier steht die vegane Alternative schon zum zweiten Mal unter dem Titel «Moving Mountains» auf der Karte.

An beiden Standorten stösst er bei den Gästen auf grosses Interesse: «Im Schnitt wählen mehr als die Hälfte das vegane Menü, auch wenn sie sich zu Hause anders ernähren. Sie sind neugierig, zu erleben, was man aus Gemüse alles machen kann.» Damit der Gaumen trotzdem eine spannende Menü-Dramaturgie erlebt, sind Campanellas Speisefolgen raffiniert ausgetüftelt: «Der Anfang ist immer sehr frisch, es folgt eine geräucherte Note, dann etwas Scharfes, wieder ein frisches, fruchtiges Element und schliesslich im Hauptgang etwas sehr Kräftiges.» In Arosa ist das eine Bergkartoffel aus dem Bündner Albulatal, im Ofen geschmort und mit Zwiebelcreme als eine Art Mille-feuille serviert, garniert mit in Essig eingelegten Perlzwiebeln, schwarzem Trüffel und frittierter Kartoffel Brunoise für einen crunchigen Effekt. [RELATED]

Immer mehr Gäste fragen nach Gemüsegerichten
Campanella, der privat zu den Allesessern zählt, begann sich auf Wunsch der Eigentümer der Tschuggen Hotel Group mit der veganen Küche auseinanderzusetzen – und war überrascht: «Ich hätte nie erwartet, dass man so viel Geschmack in einen Gemüsefond bekommt.» Er habe als Koch viel dazugelernt, sagt er, koche heute reflektierter. In den Hotels der Gruppe erlebt er, dass immer mehr Gäste gezielt nach Gemüsegerichten fragen: «Das ist längst mehr als ein Trend.» Schon jetzt freut er sich auf die Sommersaison im Tessin und auf die sonnengereiften Tomaten, die er von einem Bauer im Maggiatal holt. Daraus kreierte er im vergangenen Jahr den Renner auf der Karte: ein verblüffendes Tomatentatar, bildschön angerichtet als Törtchen mit gerösteten Pinienkernen und Basilikumeis. Und von einer Umamiwucht, die jedes Rindstatar in den Schatten stellt.

«Ich hätte nie erwartet, dass man so viel Geschmack in einen Gemüsefond bekommt.»
Marco Campanella, Küchenchef im «La Brezza», Hotel Eden Roc Ascona

Das Schöne an der neuen Gemüseküche: Jegliches Dogma ist ihr fremd. Das immer etwas ideologisch geprägte «vegan» wird mehr und mehr ersetzt durch das wertfreiere «plant-based», das Köchen eher erlaubt, Gemüse in den Mittelpunkt zu stellen, ohne ganz auf tierische Produkte zu verzichten. Nenad Mlinarevic macht in seiner «Neuen Taverne» schon länger vor, wie zeitgemässe Gemüseküche aussieht, die auch mal durch einen Geflügeljus oder eine Parmesancreme geschmacklich aufgepeppt wird. Und im Park Hotel Vitznau setzt jetzt Philipp Heid im «Prisma» ebenfalls auf Gemüse als Hauptakteur: In seinem japanisch inspirierten «Midori Omakase»-Menü dreht sich alles um pflanzliche Genüsse, aber bisweilen landet auch ein Onsen-Ei auf dem Teller. Und wer mag, darf sich Shrimps oder Wagyu dazubestellen. Der Gast entscheidet, was er essen möchte, nicht die Köchin oder der Koch.



Ein Blick über den Tellerrand

Ist vegane Küche auch sternewürdig?

In der Szene schlug die Nachricht ein wie eine Bombe: Als Daniel Humm Anfang Juni 2021 sein gefeiertes «Eleven Madison Park» in New York nach der Corona-Zwangspause wiedereröffnete, verblüffte er mit der Ankündigung, er wolle in Zukunft ein rein pflanzenbasiertes Menü servieren: «Jedes Gericht wird aus Gemüse, sowohl aus der Erde als auch aus dem Meer, bestehen, dazu Früchte, Pilze, Getreide und vieles mehr.» Ein kühner Schritt für ein 3-Sterne-Restaurant, das auch sonst alle denkbaren Auszeichnungen abgeräumt hatte. Doch der Spitzenkoch aus dem Aargauer Strengelbach war sich seiner Sache sicher: «Unser derzeitiges Lebensmittelsystem ist einfach in vielerlei Hinsicht nicht nachhaltig.»

Ein 10-Gang-Menü kostet nun 335 Dollar, ganz ohne Fleisch, Fisch oder andere tierische Produkte. Der Wareneinsatz ist überschaubar, der Aufwand riesig. Alleine 60 Köche beschäftigt der 45-Jährige für den Abendservice. Denn um Gemüse zu einem Geschmackserlebnis zu machen, das einem im Salzteig gegarten bretonischen Wolfsbarsch oder einem Entrecote vom japanischen Kagoshima-Beef gleichkommt, braucht es nicht nur viel Kreativität, sondern auch enormen Arbeitseinsatz. [IMG 2]

Schliesslich sind Humms Ambitionen nicht geringer als zuvor. Die drei Michelin-Sterne will er halten: «Mein Anspruch ist, dass unsere neuen Kreationen an die Signature Dishes der Vergangenheit heranreichen», stellt er klar. «Es ist eine riesige Herausforderung, aus pflanzlichen Zutaten etwas zu schaffen, das der mit Lavendelhonig glasierten Ente oder dem in Butter pochierten Hummer ebenbürtig ist.»

Humms neuer Weg stiess denn auch nicht nur auf Beifall. Pete Wells, der einflussreiche Restaurantkritiker der «New York Times», schrieb nach seinem Besuch: «Daniel Humm veranstaltet seltsame Dinge mit Gemüse.» Wells, der Humm bis dahin mit vier Sternen – der von der Zeitung vergebenen Höchstwertung – auszeichnete, schildert die Prozedur, mit der eine Rande zum kulinarischen Erlebnis ähnlich Humms legendärer Ente werden soll. Die Rande wird drei Tage lang geräuchert, dehydriert, rehydriert, schliesslich in fermentierte Salate und Kräuter gewickelt und in einem Tontopf gegart. Am Tisch zerschlägt ein Kellner das Tongefäss mit einem Hammer und serviert die Rande samt einer Rotwein-Rande-Reduktion. Wells Urteil: «Sie roch wie ein brennender Joint und schmeckte wie Lemon Pledge.»

Der Vergleich mit einer in den USA handelsüblichen Möbelpolitur mag auch den Eigentümern des illustren Londoner Traditionshotels Claridge’s aufgestossen sein. Als Humm sie mit dem Wunsch konfrontierte, auch sein dortiges Restaurant Davies and Brook auf ein veganes Angebot umzustellen, lehnten sie ab. Man entschloss sich «in bestem Einvernehmen», Humms Vertrag mit der Hotel-Ikone auf Ende 2021 aufzulösen. Ganz im Sinne von Pete Wells, der bedauernd resümiert: «Mr. Humm erzielte mit Gemüse reinere, tiefere Ergebnisse, bevor sein Restaurant vegan wurde.» Man darf gespannt sein, wie der Guide Michelin die Sache sieht.

Patricia Bröhm