In einer kleinen, gemütlichen Küche in Bern steht ein leckeres Znüni bereit: selbstgemachte Nussriegel mit Dörrfrüchten. Doch halt: da ist der Wurm drin. Oder besser gesagt, der Mehlwurm. «Mehlwurmmehl hat ähnliche Eigenschaften wie Dinkelmehl», erklärt die Berner Event-Designerin und Insektenköchin Andrea Staudacher, als wäre es das Normalste der Welt.

Zuvor hat die zierliche Bernerin mit einer Küchenmaschine eine Handvoll tiefgekühlter Mehlwürmer gemahlen und mit gehackten Nüssen und Dörrfrüchten zu einem Teig verarbeitet. In einer Bratpfanne brutzelte derweil eine weitere Handvoll Mehlwürmer. Ein Duft nach Butter und Nüssen durchzog die Küche. Dann rollte Staudacher den Teig aus und überzog ihn mit Agavendicksaft und streute die gebratenen Mehlwürmer und Kokosraspeln zur Dekoration darauf. «Voilà: ein proteinreicher Snack aus der Zukunft.»

Die «Proteinlücke»
Die Zukunft, oder besser gesagt, die Ernährungszukunft ist Andrea Staudachers Interessengebiet. Dabei geht sie mit durchaus unkonventionellen Ideen der Frage nach, was Menschen in 20, 30 oder 50 Jahren essen werden. Eine berechtigte Frage vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung und knapper werdenden Ressourcen. Im Rahmen ihrer Masterarbeit kam die studierte Event-Designerin auf das Thema Insekten als Nahrungsmittel. Insekten gelten als reich an Protein, ungesättigten Fettsäuren und Mineralstoffen. [IMG 5]

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass sich bis 2050 die Nachfrage nach tierischen Proteinen verdoppelt. Der steigende Wohlstand in Schwellenländern lässt die Nachfrage nach Fleisch ansteigen. «Irgendwann tut sich eine Proteinlücke auf», gibt Staudacher zu bedenken. Die Produktion von tierischen Proteinen, namentlich Fleisch, verschlingt weltweit sehr viele Ressourcen wie landwirtschaftliche Flächen, Wasser und Energie. Eine Alternative, die auch die FAO propagiert, ist der Verzehr von Insekten.

Sie brauchen viel weniger Futter und Platz als etwa Schweine oder Rinder. «Insekten haben einen zehnmal kleineren ökologischen Fussabdruck als das Fleisch, das wir essen», rechnet Staudacher vor. Auch stossen die Krabbler kein C02 aus und können problemlos und ohne grossen technischen und finanziellen Aufwand gezüchtet werden. Die Sechsbeiner könnten damit einen Beitrag dazu leisten, die Welternährung der kommenden Generationen zu sichern. Doch die Rechnung geht selbstverständlich nur auf, wenn mit steigendem Insektenverzehr auch der Fleischkonsum sinkt. Ansonsten sind die ökologischen Vorteile futsch.

Ekel überwinden
Während Insekten weltweit zum Speiseplan von rund zwei Milliarden Menschen gehören, ekelt man sich in den westlichen Kulturen vor den Krabbel-Viechern im Kochtopf. Die Fähigkeit, sich zu ekeln ist jedem Menschen angeboren. Wovor wir uns ekeln, ist jedoch erlernt. Insekten gelten in unseren Kulturkreisen als Ungeziefer. Doch: «Den Ekel kann man überwinden», ist Staudacher überzeugt. Weltweit kommen rund 2000 Insektenarten auf den Teller. Seit Mai
2017 sind Mehlwürmer, Grillen und Wanderheuschrecken auch in der Schweiz als Lebensmittel zugelassen. Das Lebensmittelrecht stellt hohe Anforderungen an die Zucht von Insekten für den Lebensmittelbereich.

In der Schweiz werden die Insekten vor dem Verkauf getötet. Als tierschonendste Methode gilt das Schockgefrieren. «Doch es gibt erst wenige Studien zur Schmerzempfindlichkeit von Insekten», weiss Staudacher. Gerade Tierschützer halten Insekten deshalb für keine geeignete Alternative. Dazu kommt, dass Speiseinsekten noch sehr teuer sind. Sie habe früher für gefriergetrocknete Importgrillen rund 600 Franken pro Kilo bezahlt, für Mehlwürmer rund 250 Franken und für Heuschrecken rund 400 Franken, führt Staudacher aus. Heute bezieht sich ihre Insekten meist aus einem kleinen Zuchtbetrieb in der Region.

Grillen-Glacé gegen die Hitze
Insekten können für eine breite Palette an Mahlzeiten verwendet werden. «Während der aktuellen Hitzewelle würde sich etwa eine Glacé, drapiert mit Grillen und Mehlwürmern, eignen oder ein schön gekühlter Heuschrecken-Smoothie», sagt Andrea Staudacher und nimmt gleich einen «Heugümpper» zum Filettieren in Arbeit.

«Das geht ganz einfach. Wie bei einer Crevette muss man mit einem kleinen Ruck den Kopf und den gefüllten Darm des Insekts entfernen. Man könnte das zwar essen, schmeckt aber etwas bitter», kommentiert die Insektenköchin völlig abgeklärt. Und schon rattert die Küchemaschine und verarbeitet Früchte, Gemüse und «Heugümpper» zu einem Smoothie. (Therese Hänni, sda)

Immer noch ein Nischenprodukt
Mehlwürmer, Grillen und Heuschrecken sind seit Mai vergangenen Jahres in der Schweiz als Lebensmittel zugelassen. Nach wie vor sind Insekten ein Nischenprodukt. Nach dem Boom der ersten Monate sei das Interesse hierzulande wieder etwas zurückgegangen, schätzt die Berner Insektenköchin Andrea Staudacher. Nun gehe es darum, den Insektenkonsum längerfristig zu etablieren. Doch das dürfte noch einiges an Überzeugungsarbeit brauchen. Weil sich hierzulande viele Menschen vor Insekten ekeln, sieht Staudacher daher Potenzial in der Extraktion von Proteinen aus Insekten. Die gewonnenen Proteine könnten vielseitig eingesetzt werden, sei es etwa für Proteinbrot oder anderes, betont Staudacher. Der Vorteil: man sieht keine Insekten und muss sich zum Essen nicht überwinden. Lebensmittelzutaten, die aus Insektenarten isoliert wurden, sind in der Schweiz aber a priori nicht zugelassen. Es braucht dafür eine Zulassungsbewilligung für ein neuartiges Lebensmittel. Doch längst nicht alle Menschen ekeln sich vor Insekten. Staudacher, die auch Insektenkochkurse gibt und Food-Events durchführt, hat ein breites Publikum. «Vom 20-jährigen Stadthipster bis zum 80-jährigen Emmentaler Bauern» habe sie schon alles erlebt. Generell gelte, dass Männer beim Probieren etwas mutiger seien als Frauen. Letztere bräuchten zunächst oft Informationen, bevor sie probierten. Zudem seien Leute auf dem Land offener für Insekten auf dem Teller als Städterinnen und Städter. Da meist nur die besonders Neugierigen Insekten probierten, brauche es Gelegenheiten, wo man ungezwungen in Kontakt mit dem Nahrungsmittel komme, weiss Staudacher. Gelegenheiten gebe es durchaus, sei es an einem Festival, an einer Party oder in einem Laden, der Insektenprodukte anbietet. (sda/og)