Rund eine Viertelmillion Stellen sind in der Schweiz derzeit unbesetzt. Auf Platz zwei der von Personalmangel am stärksten betroffenen Branchen liegen Hotellerie und Gastronomie mit über 13 000 offenen Stellen – gleich hinter dem Gesundheitswesen (14 360). Zu diesem Ergebnis kam kürzlich der «Jobradar» des Personalunternehmens x28.

Wenn es in der Branche so sehr an Fach- und Hilfskräften mangelt, müssten dann nicht fast alle Arbeitnehmenden eine Stelle haben?

Ein Blick in die Statistik zeigt allerdings: In der Branche suchen Tausende einen Job. 6766 Personen aus dem Gastgewerbe waren laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) im Juni 2022 als arbeitslos gemeldet – diese Zahl beinhaltet Arbeitnehmende aus Beherbergung und Gastronomie. «Die Arbeitslosenquote ist in der Branche weiterhin überdurchschnittlich», bestätigt Seco-Sprecherin Livia Willi auf Anfrage – dies gelte trotz deutlicher Erholung nach der Covid-Krise. So war beispielsweise die Arbeitslosenquote bei Köchen in den letzten Monaten (Januar bis Mai) mit 4,4 Prozent fast doppelt so hoch wie jene über alle Berufe betrachtet (2,4 %). Auch in Berufen wie Hotelfachmann/-fachfrau EFZ (4,3 %) oder Restaurantfachmann/-fachfrau (5,8 %) war die Arbeitslosenquote gemäss Statistik in diesem Zeitraum überdurchschnittlich.

Vergleichbare Situation in den Kantonen
Was für die gesamte Schweiz gilt, stellen auch die Regionalen Arbeitsvermittlungzentren (RAV) der Kantone fest: Im Gastgewerbe war die Arbeitslosenquote (ALQ) jüngst jeweils mindestens annähernd doppelt so hoch wie im Schnitt über alle Berufe gesehen, so etwa in Luzern (ALQ total: 1,3 % / ALQ Beherbergung: 2,4 %, ALQ Gastronomie: 2,8 %), Basel (ALQ total: 3 % / ALQ Gastgewerbe: 6,9 %), Zürich (1,7 % / 3,3 %). Auch der Kanton Bern weist eine überdurchschnittliche Arbeitslosenquote in der Branche auf (1,5 % / 3,1 %).

Was aber könnten die Gründe sein für die erhöhte Anzahl Arbeitsloser bei gleichzeitigem Mangel an Fach- und Hilfskräften? «Es ist zu vermuten, dass ein bedeutender Teil der arbeitssuchenden Personen die Branche verlassen will», teilt Generalsekretärin Beatrice Meyer vom Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt des Kantons Basel-Stadt auf Anfrage mit. «Dies wird gestützt durch die Berichte von Branchenverbänden, Arbeitgebern wie auch der subjektiven Beobachtungen der Personalberatenden des RAV.»

Überstunden nicht ausbezahlt bekommen
Eine der Personen, die der Branche den Rücken kehren wollen, ist Claudia Lang (richtiger Name der Redaktion bekannt). Die 27-Jährige arbeitete zuletzt als Betriebsassistentin in einem Restaurant einer Kette in der Zentralschweiz. In ihrer Funktion war sie unter anderem im Service tätig. Warum ihr noch in der Probezeit gekündigt worden sei, habe der Arbeitgeber nicht begründet. Dass sie die Arbeitsbedingungen kritisiert hatte, könnte aus ihrer Sicht mindestens eine Rolle gespielt haben. «Ich musste manchmal 12 oder 13 Stunden arbeiten, erhielt die Überzeit aber nicht ausbezahlt.» Einmal habe sie drei freie Tage am Stück gewünscht, was ihr zwar gewährt worden sei. Dann aber habe sie in zwei folgenden Wochen nur einen freien Tag erhalten. Unzufrieden machte sie auch der tiefe Lohn von rund 5000 Franken brutto.

Lang hat 14 Jahre Erfahrung in Hotellerie und Gastronomie. Es sei immer das Gleiche gewesen: Gemessen an den Anforderungen war die Arbeit aus ihrer Sicht stets unterbezahlt.

Fit für Fachkräfte
Der Fachkräftemangel in der Gastro- und Beherbergungsbranche hat sich während der Pandemie akut verschärft. In einer losen Artikelserie beleuchtet die htr hotelrevue das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven und zeigt verschiedene Ansätze auf, wie die Branche das Problem angeht. Ganz nach dem Motto: Fit für Fachkräfte.

Aktuell schreibe sie circa sieben Bewerbungen – pro Tag. Das RAV habe ihr eine Mindestzahl von zehn Bewerbungen im Monat vorgegeben. Die gebürtige Deutsche hofft, künftig entweder in einem Hotel oder ausserhalb der Branche in der Altenpflege oder als Verkäuferin im Aussendienst eine Anstellung zu finden.

«Bedeutender Teil will Branche verlassen»
Doch auch Arbeitnehmende, die im Gastgewerbe bleiben wollen, passen nicht automatisch auf jede offene Stelle. Laut Beatrice Meyer ist denn auch das «Matching» zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden ein grosses Problem: «Nachgefragte und angebotene Kompetenzen sind sowohl bezüglich der Grundausbildung als auch der Spezialisierung oft nicht übereinstimmend.» Auch würden die Vorstellungen zu den Arbeitsbedingungen – Gehalt, Arbeitszeiten etc. – auseinandergehen. Die RAV würden aus dem Bestand der stellensuchenden Personen an die Arbeitgeber vermitteln. «Wir stellen fest, dass die verfügbaren Profile der Stellensuchenden oft nicht zu den Anforderungen der Arbeitgeber passen.»

Gastronomie als Sprungbrett für gering Qualifizierte
Das Seco nennt auf Anfrage eine Reihe von Gründen für die Situation in der Branche. «Für eine erfolgreiche Rekrutierung spielen bei jeder Arbeitsmarktlage auch die Arbeitsbedingungen eine grosse Rolle, da das Gastgewerbe bei den Stellensuchenden mit anderen Branchen im Wettbewerb steht», teilt Sprecherin Livia Willi auf Anfrage mit.

Eine Herausforderung für das Gastgewerbe dürfte zudem laut Seco die regionale Verteilung der Beschäftigung sein, da besonders im Tourismus viele Stellen abseits der Ballungszentren angeboten würden. Auch dies könnte die Rekrutierung im Vergleich zu anderen Branchen erschweren. Eine Rolle könnte laut Seco ausserdem spielen, dass das Gastgewerbe im Vergleich mit anderen Branchen mehr Stellen mit relativ tiefem Qualifikationsniveau anbietet. In diesem Stellensegment sei das Gastgewerbe attraktiv für einen Einstieg beziehungsweise eine vorübergehende Tätigkeit für Personen, die aufgrund ihres beruflichen Profils ein höheres Arbeitslosenrisiko hätten.

Postulat zur Erfassung des Fachkräftmangels eingereicht
Dass die hohe Zahl an Arbeitslosen nicht automatisch das Problem des Fach- und Hilfskräftemangels löst, soll nun auch in der Bundespolitik ein Thema werden. Mit einem Mitte Juni eingereichten Postulat will Nationalrat Fabio Regazzi (TI/Mitte) den Bundesrat beauftragen, «eine praxistaugliche Erfassungsmethode für den Fachkräftemangel zu erarbeiten und in einem Bericht das tatsächliche Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage im Arbeitsmarkt für KMU zu ermitteln». Aktuell würden zur Bezifferung des Fachkräftemangels die Arbeitslosenzahlen den offenen Stellen gegenübergestellt, führt Regazzi in der Begründung des Postulats aus. Dabei finde eine irreführende Verzerrung statt. Denn es werde nicht unterschieden, ob jemand qualifiziert sei oder bloss in der Branche gearbeitet habe. Es gehe an der Realität von KMU-Betrieben vorbei, die Arbeitslosen als ein grosses Reservoir an Fachkräften zu sehen, die man nur rekrutieren müsse.


Nachgefragt

Tim Schneider (richtiger Name der Redaktion bekannt) war während sieben Jahren als Réceptionist in einem Boutique-Hotel in der Zentralschweiz tätig. Nach seiner Kündigung mit Austritt per Ende Mai meldete sich der 30-Jährige am 21. Juni beim RAV.[DOSSIER]

In der Branche ist Personal gefragt wie nie. Fliegen Ihnen die Angebote nicht zu?
Ich bin zuversichtlich, dass ich bald eine neue Stelle finden werde. Ich habe erste Bewerbungen geschrieben, bin von einigen Betrieben kontaktiert worden, und wir haben Interviews abgemacht. Wie es herauskommt, weiss man nie. So habe ich mich sicherheitshalber dennoch beim RAV angemeldet.

Sie haben selbst gekündigt, ohne neuen Job. Was meint das RAV dazu?
Ich wollte einmal einen Monat Pause machen, um herunterfahren zu können. Ich bin noch am Abklären, ob das RAV die Kündigung meinerseits dennoch als gerechtfertigt sieht. Die Gewerkschaft Unia hilft mir dabei. Möglicherweise werde ich während einiger Tage keine Arbeitslosengelder erhalten.

Was hat Sie zur Kündigung bewogen?
Kürzlich änderte das Management, alles war weniger gut organisiert und strukturiert. Der Arbeitgeber hat weniger Personal eingestellt, um Kosten zu sparen. Die Belegschaft musste mehr Aufgaben übernehmen. Unsere Arbeit wurde dadurch stressiger. Wir hatten auch viele personelle Wechsel. Ich musste jeden Monat neue Mitarbeitende einarbeiten.

Welche Rolle spielte der Lohn?
Noch im Januar bin ich zum Assistenten des Frontmanagers befördert worden. Ich habe mehr Lohn gewünscht, zunächst wurde das nur teils erfüllt. Nach einem weiteren Anlauf erhielt ich schliesslich den Lohn gemäss meinen Vorstellungen. Ich befürchtete aber, dass die Arbeit zu gesundheitlichen Problemen führen würde. So habe ich schliesslich dennoch gekündigt.

Wie sehen Sie die Rolle des RAV?
Ich bin zum ersten Mal beim RAV. Sie haben uns erklärt, wie alles funktioniert. Ich habe erfahren, was es heute für eine gute Bewerbung braucht – wie man zum Beispiel einen Lebenslauf am besten formatiert. Das fand ich sehr positiv. Dass das RAV zugleich auch sicherstellen will, dass ich mich um eine neue Arbeit bemühe, verstehe ich.

Verhalten der Arbeitgeber «unverständlich»
Ein kritisches Fragezeichen hinter die Klagen über den Fach- und Hilfskräftemangel in der Branche setzt Raymond Schauss, der auf der Suche nach einer neuen Arbeitstätigkeit schlechte Erfahrungen gemacht hat. Mit 65 sei er zwar «nicht mehr der Jüngste», wie er sagt. Doch er fühle sich topfit. Nach Jahren in der Gastronomie und Hotellerie könne er viel Erfahrung einbringen. Allerdings seien seine Bemühungen, eine neue reguläre Arbeit zu finden – bis auf einige zeitlich befristete Hilfseinsätze – erfolglos geblieben. Mehr noch: Auf seine Anfragen habe er oft nicht einmal eine Antwort erhalten. «Das Verhalten der Arbeitgeber ist für mich unverständlich. Wenn schon Tausende Stellen unbesetzt sind, müssten doch erfahrene Berufleute willkommen sein. Es wäre ja ein Leichtes, mindestens per E-Mail kurz eine Antwort zu geben, wenn es vom Stellenprofil her nicht passt», sagt Schauss. Zuletzt führte er von 2013 bis 2020 zusammen mit seiner Frau als Hotelier-Paar das Schloss Salavaux. Er sei gelernter Metzger und Koch und habe eine gastronomische Ausbildung absolviert. «Ich war selbst auch Arbeitgeber», sagt Schauss. Angestellte hätten ihm erzählt, sie hätten ebenfalls schon erlebt, dass andere Betriebe Jobanfragen schlicht ignorierten. Und diverse Seniorenplattformen für Freiwilligeneinsätze zeigten, dass er nicht der Einzige sei, der sich weiter engagieren wolle. Schauss sagt, er könne sich vorstellen, die Geschäftsführung eines Hotels zu übernehmen. «Ich habe ein Leben lang gearbeitet. Nun fehlt einfach etwas.» ua