40 Prozent der Mitglieder gaben in einer Umfrage des Wirteverbands Gastrosuisse an, dass es bei der Prüfung der Zertifikate schon zu «kritischen Auseinandersetzungen zwischen Gästen und Mitarbeitenden» gekommen sei. Auf Anfrage hiess es zwar, es sei nicht bekannt, welcher Art diese kritischen Vorfälle gewesen seien, ob bloss eine kritische Bemerkung gefallen oder ob es gar zu Drohungen oder Gewalt gekommen sei.

Konkrete Fälle aus der Schweiz und dem nahen Ausland zeigen aber, dass von Beschimpfungen bis zu Tätlichkeiten vieles vorkommen kann. Vor ein paar Wochen sorgte etwa der Fall eines Hoteliers in Malbun für Schlagzeilen: Ein Gast ohne Zertifikat griff diesen an, ohrfeigte ihn und traktierte ihn mit Faustschlägen.

Wie lassen sich Aggressionen entschärfen? Wie verhindert man, dass sich Situationen aufschaukeln? Und was, wenn das Gegenüber trotzdem ausrastet? Darüber haben wir mit Psychologin Leena Hässig gesprochen.

Zur Person

Leena Hässig ist selbstständige Psychologin, Beraterin bei der Fachstelle Gewalt und Stiftungsratspräsidentin bei der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Davor war sie viele Jahre in der forensischen Psychiatrie tätig.

Frau Hässig, wie erkennt man, dass eine Situation brenzlig werden könnte?

Situationen eskalieren in der Regel in Etappen: In einem ersten Schritt kann man mit dem Gegenüber noch reden. Es kann aber auch passieren, dass eine Person derart in Rage ist, dass sie auf verbaler Ebene nicht mehr zugänglich ist. Dann nützt es nichts mehr, mit dieser Person zu reden.

Wie verhindere ich, dass eine Situation kippt?

Hitzige Diskussionen sind immer mit Tempo verbunden. Deshalb ist es wichtig, zu verlangsamen. Schon ein «Lassen Sie mich kurz überlegen», gefolgt von einer Pause, kann das Gegenüber aus dem Konzept bringen. Denn aggressive Leute suchen in der Regel das Hochschaukeln.

Wenn ich als Kellner im Stress des Alltags mit dem xten Gast über das Zertifikat diskutieren muss, werde ich eventuell selber aggressiv und biete genau dieses Hochschaukeln. Wie kann ich das verhindern?

Immer verlangsamen. Ich weiss, dass das in der Hektik eines Service eine Riesenherausforderung ist. Es gibt einen altbewährten Trick: Bis zehn zählen.

«Man muss ihnen klarmachen, dass nicht zwei Personen gegeneinander kriegen, sondern dass beide ein gemeinsames Problem haben.»

Hilft es, gemeinsam nach Lösungen zu suchen?

Unbedingt. Wenn sich eine Situation aufheizt, lohnt es sich, zu überlegen, ob der Ärger des Gegenübers nachvollziehbar ist. Menschen werden aggressiv, wenn sie etwas nicht bekommen, das sie gerne haben möchten – zum Beispiel Zutritt zum Restaurant. Man muss ihnen klarmachen, dass nicht zwei Personen gegeneinander kriegen, sondern dass beide ein gemeinsames Problem haben: Der Gast möchte ins Restaurant, und die Wirtin oder der Wirt möchte den Gast im Restaurant haben.

Was, wenn die Situation trotzdem kippt?

Dann muss man klar sagen: «Stopp, so nicht!» Weil bei solchen Personen das verbale Denken nicht mehr funktioniert, muss man sehr plakativ und mit einfachen Botschaften kommunizieren. Vielleicht muss man das auch körperlich untermauern, indem man zum Beispiel mit den Händen Stopp zeigt.

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Also Konfrontation statt Gemeinsamkeit?

Ich spreche hier von Situationen, die in der Eskalation schon fortgeschritten sind. Solange man kommunizieren kann, soll man das bitte machen. Solche Situationen sind immer einfacher zu lösen.

Gibt es Leute, die von Anfang an verbal nicht erreichbar sind?

Die gibt es. Wenn etwa jemandem den ganzen Tag hindurch schon viel widerfahren ist, kann man als Kellner oder Réceptionistin auch einfach Pech haben und am Ende dieser Kette stehen. Da reicht manchmal ein Blick, und die Lage eskaliert.

«Wichtig erscheint mir, dass man im Team nicht in die Diskussion Impfen /Nicht-Impfen, Gut /Böse verfällt.»

Wenn sich die Situation nicht entschärfen lässt, was kann man dann noch tun?

Etwas Atypisches, rausgehen aus der Konfrontation, sagen: «Warten Sie bitte einen Moment.» Solange ich mich frei fühle, zum Beispiel kurz das Tablett in die Küche zu bringen, habe ich noch Freiheiten und kann Tempo aus der Situation rausnehmen. Wenn ich das nicht mehr kann, hat das Vis-à-vis die Macht.

Kann das die Rage meines Gegenübers nicht verstärken, wenn ich ihn oder sie einfach warten lasse?

Doch. Aber wenn das passiert, wird die Situation zu einem ernsthaften Problem. Dann lohnt es sich, Hilfe zu holen, zum Beispiel bei Arbeitskollegen oder bei der Polizei. Es kann sich lohnen, ein Codewort einzuführen. Wenn beispielsweise jemand laut «Bestellung, bitte» ruft, wissen alle anderen: Jetzt wirds brenzlig.

Dann sind auch die Vorgesetzten gefragt. Gibt es sonst noch etwas, das Vorgesetzte vorbeugend unternehmen können?

Eine Schulung kann helfen. Wichtig ist auch, hinter den Angestellten zu stehen und ihnen zu sagen: Du hast das Recht, dich zu wehren und dir Hilfe zu holen, und du hast das Recht, Respekt einzufordern. Wichtig erscheint mir zudem, dass man im Team nicht in die Diskussion Impfen /Nicht-Impfen, Gut /Böse verfällt.

Eine Hotelière hat mir neulich gesagt, wenn es mit einem Gast Schwierigkeiten gebe, übernehme sie das Gespräch. Ist das sinnvoll?

Ja, das hilft auch beim Entschleunigen. Alles, was das Aufheizen unterbricht, ist gut.

Macht es die Situation noch schwieriger, dass die Corona-Massnahmen immer mehr zu einer Gut-Böse-Frage werden, wenn zum Beispiel der Gesundheitsminister als Diktator bezeichnet wird?

Solche Diskussionen sollten in diesen Situationen keinen Platz haben. Es geht darum, dass es Regeln gibt im Restaurant, im Hotel, die eingehalten werden müssen. Punkt. Man muss nicht darüber diskutieren, ob das eine gute Regel ist oder nicht. Genauso wie man nicht darüber diskutiert, dass man im Restaurant nicht auf den Tisch sitzt.

«Gerade wenn man allein ist und ein ungutes Gefühl hat, sollte man auf dieses Gefühl hören und Schutz einfordern.»

Letzthin gab es in Deutschland den tragischen Fall, bei dem ein Kunde einen Angestellten in einem Tankstellenshop nach einem Streit wegen einer Maske erschossen hat. Gibt es Alarmsignale, an denen man erkennt, dass Gefahr für Leib und Leben besteht?

Die Intuition. Wenn man sich bedroht oder sehr, sehr unwohl fühlt – auch aus unerfindlichen Gründen –, muss man sich Hilfe holen oder die Freiheit haben, eine Situation zu verlassen. Aus der Forensik weiss ich: Wenn man dann den braven Mitarbeitenden gibt, kommt es falsch heraus. Die Führung muss den Angestellten den Freiraum lassen, im Extremfall den Laden dichtzumachen.

In welchen Momenten lohnt es sich, die Polizei beizuziehen?

Wenn sich das Gegenüber nicht von seinem Machtross herunterbewegt. Gerade wenn man allein ist und ein ungutes Gefühl hat, sollte man auf dieses Gefühl hören und Schutz einfordern.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Aggression eines männlichen Gasts und der eines weiblichen Gasts?

Männer haben in unserer Gesellschaft eine höhere Legitimation und Tradition des Rechthabens im sozialen Raum. Ihnen fällt es leichter, sich mit Gewalt und Aggression zu exponieren. Sie neigen deshalb rascher zu einer oberflächlichen Aggression. Wenn eine Frau aggressiv wird, hat sich schon viel aufgestaut.

Wie geht jemand, der Opfer von Aggression oder Drohungen wurde, mit dem um?

Je mehr im Team eine gemeinsame Haltung zu diesem Thema besteht, desto einfacher ist es für die Angestellten, damit umzugehen. Ich empfehle, nach konkreten Vorfällen ein Debriefing zu machen. Das kann zum Beispiel auch mit einer Fachperson und im grösseren Kreis stattfinden.

Personalorganisationen sehen Ärger und Vorteile wegen der Zertifikatspflicht

Der Gewerkschaft Syna wurden bis letzte Woche keine Vorfälle von Aggressionen im Zusammenhang mit dem Zertifikat gemeldet, wie Zentralsekretärin Claudia Stöckli sagt. Ob es zu Schwierigkeiten komme, hänge aber sehr stark von der Firmenkultur ab. Es brauche klare Vorgaben des Arbeitgebers und dessen Unterstützung. Stöckli sieht auch Vorteile des Zertifikats für das Personal: «Das Arbeiten ohne Maske wird als bedeutend einfacher empfunden.»

«Die Probleme bezüglich Verhalten der Gäste werden meiner Meinung nach grösser gemacht, als sie sind», teilt Roger Lang, Leiter Rechtsdienst der Hotel & Gastro Union, mit. Das grössere Problem sei, wenn der Arbeitgeber den Angestellten eine Zertifikatspflicht auferlege, aber keine repetitiven Tests anbiete: Es gebe Fälle, in denen die Angestellten die Testkosten tragen und die Tests in ihrer Freizeit machen müssten.

Unia-Sprecher Philipp Zimmermann hält fest: «Gastgewerbe-Angestellte sind keine Polizisten. Und die Arbeitgeber müssen ihre Angestellten schützen – nötigenfalls unter Rückgriff auf die Polizei oder auf Sicherheitsdienste.» Ob und wie verbreitet es zu Vorfällen gekommen sei, könne er nicht sagen, da ihm die entsprechenden Informationen fehlten.

Mischa Stünzi