Schon beim Amuse-bouche wird klar, dass Heiko Nieder im Dolder Grand in Zürich mit seinen starken, eigenständigen, fast provokativen Kompositionen an diesem Tag in die Liga der nun sieben Schweizer Köche mit 19 Punkten im Gault Millau aufsteigen wird. Hier ist es eine mit einer Roggenemulsion überzogene, mit Forelleneiern dekorierte und mit Orange kräftig akzentuierte Meerforelle. Nur die Köchin des Jahres 2014, Tanja Grandits vom Stucki in Basel, servierte an diesem speziellen Tag 80 anspruchsvollen Gästen eine solche Geschmacksexplosion.

Vorab sei bemerkt, dass zwei der vier Gerichte von Heiko Nieder mit ihrer unglaublichen Kraft und Köstlichkeit unvergesslich bleiben: ein Hirsch-Millefeuille mit Holunder und ein herzhaftes, salziges Dessert von knusprigem Gemüse und Obst. Das delikate Vorspiel zu diesem Höhepunkt bildet ein kalter, mit Zitrone, Avocado, Blüten und Kräutern bestreuter bretonischer Hummer. Bei all ihrer Kraft hat diese Komposition auch eine beruhigende, gesetzte, bürgerliche Dimension. Sie besänftigt die Geschmacksnerven, ohne Neues anzusprechen. Das zweite Gericht knüpft am «Gefecht» der Vorspeise an. Eine Misopaste, absolut exotisch. Optisch gleicht sie einer Polenta, doch mit Yuzu und Chilipfeffer kombiniert hat sie etwas Beunruhigendes, Invasives. Ein schönes Stück perfekt gegarten Kabeljaus belegt der Chef mit gebratener Foie gras. Ein paar Gäste rufen «Genie». Natürlich würdigt man die Irritation der Sinne. Doch wie bei Tanja Grandits, die eine Jakobsmuschel mit Minzöl beträufelte, kann man nicht ganz verstehen, dass Heiko Nieder diesen Kabeljau mit einer anderen Delikatesse überdeckt. Die beiden neutralisieren sich gegenseitig.

Schwer nachvollziehbar für mich auch, warum uns in diesem Restaurant mit Blick auf den Zürichsee dreierlei Meeresfrüchte serviert werden. Im Gault Millau, der den Küchenchef feiert, fällt ein Satz ins Auge, der an eines seiner Kultgerichte erinnert: «Der von Bianchi aus dem hohen Norden angelieferte isländische Saibling kommt ideal kalibriert an (1,3 Kilo).» Im 21. Jahrhundert würde man lieber den Namen eines lokalen Fischers lesen. In seinem Element ist Heiko Nieder ebenfalls in der vegetarischen Küche, wie der perfekt gedämpfte Blumenkohl meines Tischnachbarn zeigt.

Das prächtige Finale leuchtet dann umso heller. Das Hirsch-Millefeuille nimmt mit den Holunderbeeren und fast rohen Steinpilzen einen Dialog auf. Texturen spielen ein endloses Spiel. Eine angriffige kleine Mousse aus gelben Rüebli mit Curry treibt den Waldspaziergang an die Grenzen der Science-Fiction. Ein grosses Gericht! Patissier Andy Vorbusch spricht mit seiner Krone aus Sellerie, Gurke und Ingwer dieselbe Sprache. Sie erinnert an die Ästhetik des Hummergerichts, doch hier lässt die leere Tellermitte, die bald ein köstliches Heidelbeercoulis füllen wird, erwartungsvoll erschauern. Es dehnt die vom Holunder eröffneten Säurehorizonte weiter aus. Schwindelerregend im Mund sind die Gurkensplitter. Heiko Nieder wagt in schmucklosem Geschirr eine grosse Komplexität der Aromen, er setzt die Geschmacksnerven ungeahnten Reizen aus und lässt sich manchmal von der noblen Aufgabe des Luxusrestaurants einholen. Das erinnert an die ­unglaubliche, eklektische Kunstsammlung im Dolder Grand.

Übersetzung: Christina Miller

Das Interview mit Heiko Nieder lesen Sie hier.