Die Herbstferien zeigen es einmal mehr: Es wird so viel gereist wie nie zuvor. Und doch scheint es, als hätten wir bei all den Angeboten bisweilen aus dem Blick verloren, worum es beim Reisen ursprünglich ging – nicht ums Abhaken von Orten, sondern um einen Wechsel des Blicks, um Begegnung und Staunen. In der Debatte darüber wünsche ich mir vor allem eines: Fairness. Sie beginnt damit, die eigenen Ansprüche mit dem eigenen Verhalten in Einklang zu bringen. Wir alle sind gefragt.

Zur Fairness gehört, die Wirklichkeit nicht nur an den stärksten Bildern zu messen. In der Berichterstattung über «Overtourismus» landen die Kameras verständlicherweise oft in den intensivsten Wochen – bei uns sind das Juli und August. Diese Perspektive ist nachvollziehbar, zeigt aber nicht den Alltag. Dazwischen liegen breite, ruhige Zeiträume: Wochentage im Herbst ausserhalb der Ferien, Phasen im Frühling oder die Übergänge zwischen den Saisons. Und selbst im Hochsommer gibt es Freiräume – frühmorgens, unter der Woche, auf wenig begangenen Höhenwegen abseits stark frequentierter Bereiche. Wer bereit ist, ein paar Schritte neben die bekannten Pfade zu treten, findet Stille und Raum. Eine faire Sicht stellt beides nebeneinander: den Samstag im August und den Dienstag im Oktober. Dass es Tage gibt, an denen es eng wird, bestreite ich nicht; daraus ein Dauerbild zu formen, würde der Wirklichkeit jedoch nicht gerecht.

Wer bereit ist, ein paar Schritte neben die bekannten Pfade zu treten, findet Stille und Raum.

Reisemotivation hat sich verändert
Verändert hat sich auch die Motivation des Reisens. Soziale Medien haben vieles lauter und schneller gemacht. Mitunter reisen wir eher der Aufnahme wegen als der Erfahrung wegen. Das ist kein Vorwurf – es betrifft uns alle. Wenn wir uns an die eigene Nase fassen, wird aus dem Wunsch, etwas zu zeigen, wieder der Wille, etwas wirklich zu erleben: weniger Inszenierung, mehr Einlassen.

Worum es beim Reisen geht, zeigt sich oft in kleinen Momenten. Am Bahnhof Grindelwald etwa öffnen sich die Türen der Berner Oberland-Bahn; eine mehrgenerationale Familie aus Asien tritt auf den Perron. Ein Atemzug, der Blick hebt sich – Wetterhorn, Fiescherlücke, Eiger. Stille. Das Kind mit dem roten Rucksack sagt leise: «Wahnsinn.» Für diese Menschen ist es ein einmaliger Augenblick; für den Ort eine stille Erinnerung daran, warum Gäste kommen – und warum Rücksicht und Schutz zählen.

Tourismus als wirtschaftliche Grundlage
Zur ausgewogenen Sicht gehört ebenso, Tourismus nicht nur am Störpotenzial zu messen. In Grindelwald und in der Jungfrau Region bildet er die wirtschaftliche Grundlage dafür, dass hier gelebt, gelernt und gearbeitet werden kann. Das lässt sich nüchtern belegen: Die Steuererträge sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen – bei juristischen wie bei natürlichen Personen sowie bei den Liegenschaften. Das bringt mehr Mittel für Infrastruktur, Schulen, Wegunterhalt, Vereine und Kultur – zum Nutzen aller.

Genauso wichtig ist das Miteinander vor Ort. Unsere Landschaft ist nicht Kulisse, sie ist Arbeitsraum. Darum haben wir «We Take Care» in Grindelwald gemeinsam mit den Beherbergern und in enger Abstimmung mit der Landwirtschaft entwickelt. Keine grosse Geste, sondern einfache, klare Regeln: auf den Wegen bleiben, Zäune respektieren, Rücksicht auf Heuet und Weidewechsel, Hunde dort an die Leine, wo Tiere geschützt werden müssen. Das wirkt leise – genau dort, wo es nötig ist.

Unsere Landschaft ist nicht Kulisse, sie ist Arbeitsraum.

Genauer hinschauen
Mein Anliegen ist schlicht: Schauen wir genauer hin und handeln wir entsprechend. Medien, die auch die ruhigen Zeiten zeigen und unterschiedliche Stimmen hören. Gäste, die bewusst reisen, Zeiten jenseits der Spitzen wählen, den öffentlichen Verkehr nutzen, sich Zeit nehmen und mit den Menschen vor Ort sprechen. Und wir Einheimischen, die offen bleiben, erklären und Lösungen weiterentwickeln, die zu unserem Tal passen.

Gelingt uns das, verliert das Schlagwort «Overtourismus» seine Schärfe. Im Vordergrund steht dann wieder, was Reisen ausmacht: ein wacher Blick, Respekt füreinander und die Bereitschaft, einen Ort wirklich kennenzulernen. So bleibt der erste Blick auf die Nordwand für unsere Gäste ein Geschenk – und für uns Einheimische gut lebbar.

Bruno Hauswirth ist Resort Director von Grindelwald Tourismus.