Morgens 8.30 Uhr in Peking. Auf den Strassen ist es ruhig, bis auf das monotone Surren der E-Töffli. Ab und zu saust uns ein Geisterfahrer entgegen. Zigi im Mundwinkel, Känguru-Ohren am Helm und die Augen fix auf ein oder zwei Smartphones gerichtet. China ist ein Land der Gegensätze. Zwischen glitzernden Hoch­häusern tanzen Seniorinnen mit roten Fächern zu nostalgischen 60er-Jahre-Klängen. Innerhalb einer Stunde kann man fast alles bestellen, was das Internet zu bieten hat – geliefert bis an die Tür.

Kaum eine Gesellschaft hat eine solche Entwicklung durchgemacht wie das chinesische Volk. Der unermüdliche Ehrgeiz, etwas zu erreichen, jemand zu sein, ein besseres Leben für die nächste Generation zu schaffen, ist elektrisierend. Vor 20 Jahren wollten die Chinesen die Welt sehen, möglichst viel, möglichst schnell. Zeit war knapp, Reisen teuer. Heute gibt es eine breite, gut betuchte Mittelklasse. Diese strebt nach Selbstverwirklichung und Freizeitgestaltung. Während der Luxuskonsum in den Keller gleitet, schnellen Verkäufe für Tennisoutfits, Skiunterricht und Yoga-Pants in die Höhe. Man will noch immer zeigen, dass man jemand ist. Aber jetzt weniger mit dicken Logos auf der Brust, sondern vielmehr vor exotischen Kulissen auf Red Note, der chinesischen Social- und E-Commerce-App.

Die Pandemie hat das Reiseverhalten im chinesischen Markt verändert. Die Wirtschaftslage drückt auf den Konsum. Viel stärker aber wirkt die unterschwellige Werteverschiebung in der Gesellschaft. Immaterielle Bedürfnisse treten in den Vordergrund. Die Schweiz ist für viele ein Traumland: hoch entwickelt, malerisch, ausser Reichweite für die breite Masse. Heute will man die Schweiz nicht nur sehen, sondern erleben. Die Neugierde und die Begeisterungsfähigkeit, die in der chinesischen DNA stecken, sind vielfältig: Zug-Nerds, Klassikfans, Weinexperten ...

In China rotiert die Erde schneller. Druck und Dynamik sind schwindelerregend. Wer mitspielen will, muss die Regeln kennen und den Mut haben, sie zu brechen. China ist kein Monolith. Die Herzen der Chinesinnen werden nicht durch teure und glitzernde Kampagnen aus der Konserve gewonnen, sondern durch profunde Kenntnisse der chinesischen Kultur, strategische Partnerschaften, Beziehungspflege. «Guānxi» (Vitamin B) ist heute wie vor 5000 Jahren das höchste aller Güter. Auch nach dreissig Jahren Präsenz sind wir nicht müde, uns anzupassen, neu zu erfinden und mit Leidenschaft auf unbekanntes Terrain zu treten. Die Gästebedürfnisse der Chinesen sind heute anspruchsvoller. Wer in China erfolgreich sein will, heisst es, muss sein wie Bambus – schnell und flexibel.

Die grössten Fehler, die wir in Europa begehen, sind mangelnde Neugierde, fehlendes Verständnis oder Vorurteile gegenüber einer der faszinierendsten Weltregionen. Nie wird aus China mehr gereist als 2025. Das Potenzial ist da. China ist gekommen, um zu bleiben – ob wir dabei sind oder nicht.

Daniela Chiani ist Direktorin Schweiz Tourismus Greater China.